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       # taz.de -- NS-Justiz: Die ehrhaften Verräter
       
       > In Hamburg ist der erste Stolperstein für einen Wehrmachts-Deserteur
       > eingeweiht worden. Dessen Freund Ludwig Baumann hat dafür gekämpft - und
       > dafür, dass endlich auch "Kriegsverräter" rehabilitiert werden.
       
   IMG Bild: Der Stolperstein für Kurt Oldenburg.
       
       Ludwig Baumann steht vor dem frisch verlegten Stolperstein in
       Hamburg-Wandsbek und spricht mit leiser Stimme über seinen Freund Kurt
       Oldenburg, mit dem er 1941 aus der Wehrmacht desertierte. Der 88-Jährige
       hält ein Foto Oldenburgs in der Hand: es zeigt seinen Freund als
       22-jährigen in Wehrmachtsuniform, gutaussehend, mit gescheitelten Haar.
       
       Die beiden jungen Soldaten waren als Wachsoldaten auf einem
       Marinestützpunkt im besetzten Frankreich eingeteilt. Sie hatten sich dort
       kennengelernt und beschlossen, nicht länger Teil der
       nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie sein zu wollen. "Wir konnten
       einfach keinen Menschen töten", sagt Baumann, der damals auch erst 22 war.
       
       Sie nahmen Kontakt zur französischen Résistance auf. Der Plan war, über den
       unbesetzten Teil Frankreichs und Marokko nach Amerika zu fliehen. In
       ziviler Kleidung, mit Pistolen bewaffnet, verließen sie in der Nacht das
       Hafengelände von Bordeaux, wo sie stationiert waren. Es waren nur noch
       wenige Kilometer bis zur Demarkationslinie, als eine deutsche Zollstreife
       sie aufgriff. Zur Überprüfung ihrer Personalien wurden sie zum nächsten
       Posten geführt. Baumann wusste, dass sie nun schießen mussten, um der
       Verhaftung zu entgehen. "Wir hatten ja Waffen aus der Kaserne dabei, aber
       wir konnten einfach nicht. Ich habe nicht die Möglichkeit, einen Menschen
       zu erschießen."
       
       Sie werden vor ein Hamburger Kriegsgericht gestellt, die Anklage lautet
       Desertion. In 40 Minuten entscheidet Marinegerichtsrat Dr. Lüder über das
       Schicksal der jungen Männer: Todesstrafe. "Die Flucht vor der Fahne bleibt
       das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann",
       schreibt Lüder in seiner Urteilsbegründung.
       
       Dass Baumann noch davon berichten kann, verdankt er den Kontakten seines
       Vaters, einem einflussreichen Hamburger Tabakhändler. Als er von dem Urteil
       hört, lässt er seine Verbindungen zu Großadmiral Erich Raeder spielen. Die
       beiden Hamburger werden begnadigt, das Todesurteil in eine zwölfjährige
       Zuchthausstrafe umgewandelt.
       
       Doch Baumann liegt in der Todeszelle, wird geschlagen und gefoltert. Von
       seiner Begnadigung hat er nichts erfahren. Jedes Mal, wenn er die Schritte
       der Wachen hört, denkt er, dass sie ihn holen. An Händen und Füßen
       gefesselt liegt er monatelang in der Zelle und glaubt, er müsse sterben.
       Erst nach zehn Monaten wird er über seine Begnadigung informiert. Man
       bringt ihn ins KZ Emsland, schließlich landet er in einem Strafbataillon in
       Weißrussland.
       
       Auch sein Freund Kurt Oldenburg wird kommt in ein Bewährungsbataillon, in
       dem kriegsgerichtlich abgeurteilte Soldaten in der vordersten Frontlinie
       "verheizt" werden. Ein Schulterschuss rettet Baumann das Leben, er überlebt
       den Krieg in einem Lazarett. Oldenburg kehrt nicht aus dem
       "Bewährungseinsatz" an der Russlandfront zurück.
       
       Baumann legt das Portraitbild Oldenburgs, das er in seinem Portemonnaie
       hatte, neben den frisch verlegten Stolperstein für seinen alten Freund. Von
       den 2.720 Stolpersteinen, die bisher in Hamburg verlegt wurden, ist dies
       der erste für einen Deserteur. Gestiftete wurde Oldenburgs Stein von Detlef
       Garbe, Leiter der Gedenkstätte KZ-Neuengamme. "Erst jetzt werden Deserteure
       und Kriegsverräter nicht mehr als feige Kriminelle wahrgenommen", sagt
       Garbe.
       
       Auch Baumann schlug nach Kriegsende die Verachtung der Deutschen entgegen.
       Er wird als "Feigling" und Vaterlandsverräter beschimpft. Sein Vater kann
       ihn nicht mehr in den Arm nehmen - zu groß ist die Scham, der Vater stirbt
       1947. Baumann trinkt sich durch die Nachkriegsjahre, versäuft das gesamte
       Erbe der Familie in einer kleinen Hamburger Kneipe am Gänsemarkt.
       
       Dann stirbt seine Frau. Baumann hört auf zu trinken und beginnt, für die
       Rehabilitierung der Opfer der Militärjustiz zu kämpfen. Anfang der 90er
       Jahre gründet er den Verein "Opfer der NS-Militärjustiz". 30.000
       größtenteils einfache Soldaten wurden zum Tode verurteilt, davon wurden
       20.000 der verhängten Todesurteile vollstreckt. Und die Urteile der
       Blutrichter des Nationalsozialismus sollten auch noch Jahrzehnte nach
       Kriegsende ihre Gültigkeit haben. "Erst seit 1991 haben die Witwen der
       Ermordeten die Möglichkeit, Rentenansprüche geltend zu machen", sagt Detlef
       Garbe. "Das ist verwerflich."
       
       Einen Grund für diesen unverständlich zähen Kampf für das Recht von
       Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und Kriegsverrätern sieht Garbe im
       "Stahlhelm-Flügel der CDU". Die konservativen Kreise der Union wollten die
       NS-Justiz nicht pauschal als Unrechts- und Willkürjustiz verunglimpft
       sehen. Auch die Tatsache, dass viele NS-Richter ihren Weg zurück in die
       Gerichtssäle der Bundesrepublik fanden, blockierte die Rehabilitierung der
       Opfer. "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!", sagte der
       ehemalige NS-Richter Hans Filbinger, als er noch Ministerpräsident von
       Baden-Württemberg war.
       
       Erst 2002, 57 Jahre nach Kriegsende, erreichten Baumann und sein Verein die
       pauschale Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren. Doch noch immer
       wurden so genannte Kriegsverräter in das "Gesetz zur Aufhebung
       nationalsozialistischer Unrechtsurteile" bewusst nicht aufgenommen - dabei
       war der Kriegsverräter-Paragraf nichts als ein Instrument des NS-Regimes,
       um missliebige Personen loszuwerden. Nach Ansicht des NS-Juristen Erich
       Schwinge etwa sei bereits eine "pazifistische Gesinnung" Kriegsverrat und
       mit der Todesstrafe zu ahnden.
       
       "Was hätte man denn besseres tun können als Hitlers Krieg zu verraten?",
       fragt Baumann Justizministerin Brigitte Zypries (SPD). Die begründet im
       Briefwechsel mit Baumann das Ausklammern der Kriegsverräter mit einer
       "nicht ausschließbaren Lebensgefährdung für eine Vielzahl deutscher
       Soldaten" durch Kriegsverräter.
       
       Baumann war entsetzt, dass das "Argument der Lebensgefährdung deutscher
       Soldaten über den Tod von Millionen Opfern des deutschen
       Vernichtungskrieges gestellt" werde. Immerhin hätten "Millionen Zivilisten,
       KZ-Insassen und auch Soldaten nicht mehr sterben müssen, wenn mehr Soldaten
       Kriegsverrat begangen hätten", sagt Baumann.
       
       Von den Kriegsverrätern, die den Krieg überlebt haben, lebt keiner mehr,
       doch Baumann kämpft für alle Opfer der NS-Justiz. Erst diesen Monat, 70
       Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, war die Bundesregierung bereit,
       die Militärgerichtsbarkeit der Wehrmacht als Unrecht und
       Herrschaftsinstrument der Nazis anzuerkennen. Sie beschloss, Kriegsverräter
       in das "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile"
       aufzunehmen. Bereits 2006 hatte die Linke einen entsprechenden
       Gesetzes-Entwurf eingebracht, doch die große Koalition wollte einen Antrag
       der Linken nicht unterstützen. Als "unerträgliches politisches Feilschen"
       bezeichnet Baumann das peinliche Lehrstück parlamentarischer Politik.
       
       Dafür, dass Fahnenflucht und Kriegsverrat nun endlich als eine Form des
       Widerstandes gegen den deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg begriffen
       werden konnten, macht Claudia Bade von der NS-Dokumentationsstelle im
       sächsischen Torgau auch einen "Elitenwechsel in der deutschen Justiz"
       verantwortlich. "Ich hoffe sehr, dass NS-Deserteure und Kriegsverräter auch
       in der Öffentlichkeit als ehrenwerte Menschen akzeptiert werden", sagt
       Baumann.
       
       Am 1. September, dem 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, wird
       er in Köln ein Deserteursdenkmal einweihen. Die Stadt ist die erste, die an
       diese vernachlässigte Opfergruppe erinnert. "Auch in Hamburg sollte ein
       Denkmal an die Menschen erinnern, die sich dem Krieg widersetzt haben und
       dafür sterben mussten", sagt Baumann. Etwa 300 Deserteure und
       Kriegsverräter wurden unter anderem auf dem Schießplatz Höltigbaum im
       Hamburger Stadtteil Rahlstedt erschossen, enthauptet oder erhängt.
       
       Privat aufgestellte Denkmäler wie eine Soldatenplastik "für den unbekannten
       Deserteur" in Blankenese wurden geschändet. Ein Anfang der 90er Jahre in
       Altona aufgestelltes Denkmal wurde vom Kulturausschuss des Bezirks
       abgelehnt und musste entfernt werden. "Es gibt", sagt Baumann, "keinen
       offiziellen Platz, an dem die Angehörigen ihrer Verwandten gedenken
       können".
       
       20 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joseph Varschen
       
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