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       # taz.de -- Streik Academy: Die Kollegen sind ängstlich
       
       > In Bremen tagte am Wochenende die "Streik Academy". Es galt
       > herauszufinden, wie in den neuen Arbeitsverhältnissen ein Ausstand
       > machbar ist: "Was ist ein Streik?"
       
   IMG Bild: Streiken will gelernt sein.
       
       Ana Hoffner bewegt sich auf allen Vieren. Wie ein wütender Hund beißt die
       Performerin in die Hosenbeine der Umsitzenden. Im Zuge ihres Reenactments
       einer Videoperformance von Bruce Naumann aus dem Jahr 1968 kommt es zum
       Handgemenge, eine Frau fällt vom Stuhl. Auf dem Höhepunkt der Eskalation
       verlässt die Künstlerin den Raum. Ratlose Gesichter. Was hat das mit Streik
       zu tun? "Bewegung, privatisiert" lautete der Titel von Hoffners "Übung". In
       einigen Gesichtern steht das Entsetzen. "Wir hätten sie hochziehen sollen",
       findet jemand.
       
       Mitten im Niemandsland eines Bremer Industriegebiets, wo die Stadt nichts
       von der Mitleid erregenden Niedlichkeit hat, die sich der Anreisenden vom
       Zug aus darstellt, tagen an diesem Wochenende Künstlerinnen,
       Wissenschaftlerinnen und Aktivisten. Die hiesige Frauenkulturlabor Thealit
       hat zur "Streik Academy" geladen. Zwischen Greif-zu-Markt und
       Medienklitschen sollen in den großzügigen Räumen der Galerie Rabus
       Vorschläge zum Aussetzen der neuen Arbeitsverhältnisse zusammengetragen
       werden.
       
       Der Kontext macht die einzelnen Einlassungen produktiv. Denn auf das, was
       Hoffner vielleicht inszeniert hat, wirft wenig später She She Pop das Licht
       einer Möglichkeit. Die für hedonistische Publikumsherausforderungen
       bekannte Performancegruppe verkündet: "Erste und wichtigste Voraussetzung
       für den Streik ist eine Beziehung zu einer Partei, die durch Erpressung
       belastet werden kann", und macht sich daran, die Anwesenden probehalber zum
       Knüpfen einer "Relevanzbeziehung" zu bringen. Der Aufforderung, für einen
       Popstar-Darsteller die hingebungsvollen Fans zu geben, kommen viele aus dem
       Publikum nach. Jetzt müssten sie nur noch zubeißen. Trotzdem, wird nachher
       draußen geraunt, sei der Ertrag nicht so üppig gewesen. Mal sehen, was die
       Wissenschaft zu bieten hat.
       
       Eine geöffnete Tür neben dem Podium gibt den Blick auf eine Werkzeugwand
       frei, wie mahnend präsentieren sich da Hammer und Schraubenzieher fein
       säuberlich aufgehängt, während die Sozialwissenschaftlerin Efthimia
       Panagiotidis erst mal von ihrer Erschöpfung berichtet. Seit kurzem hat sie
       eine halbe Stelle als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Uni Hamburg,
       muss dafür vier Seminare bestreiten, die abzuhalten allein schon acht
       Stunden in Anspruch nimmt, für einen Hungerlohn. Nebenbei ist sie noch
       aufgefordert, ihren "Master of Higher Education" zu machen, mit dem
       neuerdings der universitäre Mittelbau auf Effizienz getrimmt wird. Das
       Lernen übers Lehren sei ihr allerdings auch eine Hilfe.
       
       "Was ist ein Streik?", diese Frage bewege auch das Netzwerk Euromayday
       Hamburg, dem sie angehört, sagt Panagiotidis. Aber zuvor gelte es erst mal,
       "den Faktor Subjektivität verhandelbar zu machen", sich die
       unterschiedlichen Weisen anzusehen, "wie Prekäre ihren Alltag bestreiten".
       Dazu gehöre auch, dass manch eine scheinbare Zumutung der neuen
       Arbeitsverhältnisse als Zugewinn empfunden wird.
       
       Wie man denn von der Subjektivität zum politischen Subjekt kommen könnte,
       will einer der Zuhörer wissen. "Das kann ich dir nicht beantworten, es sei
       denn, du tust heute etwas mit mir", entgegnet die Rednerin sibyllinisch.
       Der Falle, einer Gruppe von Leuten Handlungsfähigkeit anzudichten, einfach
       indem man eine gemeinsame soziale Lage behauptet, will das Bremer
       Mayday-Bündnis durch aktivierende Untersuchungen begegnen. "Das ist
       angelehnt an das Konzept der militanten Untersuchung, ich weiß nicht, ob
       ihr das kennt", versucht eine Aktivistin zu erläutern. Jedenfalls hat das
       Bündnis auf der Bremer Parade am 1. Mai verschiedene Flüchtlinge, die in
       irregulären Arbeitsverhältnissen stecken, vom Lautsprecherwagen herab über
       ihre spezielle Situation berichten lassen.
       
       Arbeiten Künstler etwa? 
       
       Der fiktive Entwurf eines politischen Subjekts wiederum ist der Gruppe La
       Cumpanei Ausgangspunkt für das kabarettistische Theaterstück "Die lange
       Nacht der Illuminationstheorie". Im kurzerhand zur Bühne umfunktionierten
       größeren Nebenraum lassen die drei Frauen die hektische Situation
       entstehen, die sich im Büro einer Event-Agentur herstellt, wenn auf einen
       Schlag alle Künstler die geplante Großveranstaltung bestreiken. Die Suche
       nach einem Ausweg mündet in den Beschluss der Organisatorinnen, das Event
       einfach umzubenennen in "Die Stadt der streikenden Künstler". Gefahr!
       Vereinnahmung! Geritzt. Aber wem leuchtet schon ein Kunststreik ein.
       Arbeiten Künstler etwa? Die eine oder andere Zuschauerin blickt etwas
       enttäuscht drein ob so viel Schlichtheit.
       
       Komplexer stellt es sich im Konkreten dar: Zwei Angehörige des
       Scheißstreikkomitees schildern sehr anschaulich ihre Versuche, mit den 600
       Mitarbeitern, vor allem Festangestellen, von Ambulante Dienste e.V. in
       Berlin zum kollektiven Widerstand zu kommen - gegen Lohnkürzungen, mit
       denen die Geschäftsführung 2007 aufwartete. Eine große Rolle beim Abdrängen
       des Pflegebereichs in den Niedriglohnsektor spiele die Novellierung des
       Pflegeversicherungsgesetzes von 1994. "Das ist extrem abstrakt: Wer ist
       eigentlich zuständig für unsere Löhne?"
       
       Hinausgelaufen sind die Versuche auf die Kampagne, via Internet alle
       möglichen Aufgebrachten zur Einsendung von Kotproben zu bewegen, und zwar
       an nach eigenem Gutdünken ausgewählte Verantwortliche. Durch diesen Kniff
       haben die bloß symbolisch Streikenden im Grunde ihre Lohnfrage zu einer der
       gesamten Gesellschaft gemacht. Doch bis zu dem Publikumsliebling, der ihre
       Kampagne wurde, war es ein langer Weg.
       
       Klassischer Streik? Ging nicht, weil ihr Betrieb nicht tarifgebunden ist
       und es keinen Arbeitgeberverband gibt. "Wieso kein wilder Streik?", will
       jemand wissen. Zu teuer für die Angestellten und zu gefährlich. "Das führt
       zu verhaltensbedingten Kündigungen", bremst Kampagnen-Sprecher Muchtar
       Cheik-Dib den Tatendrang der vielen, die im Rahmen ihrer Wortbeiträge über
       die eigenen Arbeitsverhältnisse schimpfen. Den Pflegekräften blieben
       kollektive Klagen gegen die Auflösungsverträge vorm Arbeitsgericht. Doch da
       war das Gros der Kollegen zu ängstlich.
       
       Er wolle da, sagt Cheik-Dib, gar nicht moralisieren. 80 Prozent aller
       Arbeitnehmer, sagt er, steckten nicht mehr in Arbeitsverhältnissen, in
       denen sie das grundgesetzlich verbürgte Streikrecht wahrnehmen können. "Die
       haben uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Es sind ganz konkrete
       Kämpfe verloren worden." Eine Zuhörerin hält es dagegen für "eine Frage für
       Ideengeschichtler, warum die Leute nicht mal mehr ihre Rechte vorm
       Arbeitsgericht wahrnehmen". Viele Diskutanten pflichten ihr bei und wollen
       den Hebel bei der Politisierung ansetzen.
       
       Emmelys Streik 
       
       Auf welchen Hund der gute alte gewerkschaftlich organisierte Streik
       gekommen ist, zeigt Barbara Schönafingers Dokumentarfilm "Ende der
       Vertretung - Emmely und der Streik im Einzelhandel" (2009). Mit großer
       Parteinahme für die waghalsigsten unter den Verkäuferinnen (ein Großteil
       beteiligte sich nicht an den Aktionen), macht sie die Gewerkschaft für den
       miesen Abschluss im letzten Jahr verantwortlich. Nachdrücklich treten die
       Bilder den Beweis an, dass eine windelweiche Ver.di immer dann zur nächsten
       Pause gerufen hat, wenn die Entschlossenheit der Streikenden und ihre
       Verhandlungsmacht am größten gewesen ist.
       
       Das möchte ein gewerkschaftskritischer IG-Metaller, seinem Aussehen und
       Auftreten nach seit 40 Jahren im Geschäft, so nicht stehen lassen: "Ver.di
       war nie eine Kampfgewerkschaft", gibt er zu. "Aber die Arbeitnehmer, die
       sie vertreten, waren auch nie besonders kämpferisch." Und: "Wir dürfen uns,
       das hat der Film auch gezeigt, in unserem Kampf gegen diese
       Unternehmergesellschaft nichts vormachen über die Kräfteverhältnisse." Das
       ist doch mal ein Wort.
       
       Vorerst entlassen in einen gnädig sonnigen Bremer Abend, sehnen die meisten
       nur noch das angekündigte Konzert herbei. Bestritten wird es von Bernadette
       La Hengst, die sich mit Christiane Rösinger den Rang der Chefbardin fürs
       bohemistische Prekariat teilt. Ihr Song "Nie mehr vor Mittag aufstehen"
       klingt noch viel hymnischer als sonst.
       
       Die nur symbolisch Streikenden haben ihre Lohnfrage zu einer der gesamten
       Gesellschaft gemacht
       
       20 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christiane Müller-Lobeck
       
       ## TAGS
       
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