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       # taz.de -- Bilanz des Filmfestivals Cannes: Krise hemmt Lust auf Risiko
       
       > Cannes setzte diesmal auf Bewährtes. Doch das half nicht viel. Nur drei
       > Provokationen stemmten sich gegen einen ansonsten eher behäbigen
       > Wettbewerb.
       
   IMG Bild: "Beständig und unspektakulär": Auch die Filmfestspiele von Cannes standen im Zeichen der Krise.
       
       In Krisenzeiten sehnt sich ein jeder nach Sicherheit. Cannes, das
       wichtigste Filmfestival der Welt, macht keine Ausnahme. Der Filmmarkt, das
       ökonomische Herzstück des Festivals, sei "beständig und unspektakulär"
       gewesen, befand das Branchenblatt Variety. Auch im offiziellen Programm
       scheute man lieber vor Experiment und Risiko zurück. Thierry Frémaux, der
       Festivalleiter, setzte bei der Auswahl der Wettbewerbsbeiträge fast
       durchgängig auf bewährte Namen. Pedro Almodóvar, Ang Lee, Ken Loach, Alain
       Resnais, Lars von Trier, Tsai Ming-liang, Jane Campion und andere nicht
       minder renommierte Autorenfilmer stellten neue Arbeiten vor, fast alle von
       ihnen waren schon mehrmals in Cannes zu Gast - so auch der Regisseur des
       Gewinnerfilms, der Österreicher Michael Haneke.
       
       2005 präsentierte er im Wettbewerb "Caché" und gewann dafür den Preis für
       die beste Regie, 2002 zeigte er "Wolfzeit", 2001 nahm er für "Die
       Klavierspielerin" den Großen Preis der Jury entgegen. Isabelle Huppert
       spielte damals die Hauptrolle und bekam dafür eine Auszeichnung, in diesem
       Jahr saß sie der Jury vor.
       
       Hanekes neuer, nun mit der Goldenen Palme ausgezeichneter Film "Das weiße
       Band - Eine deutsche Kindergeschichte" ist eine mehrheitlich deutsche
       Produktion, an der die Berliner Firma X Filme Creative Pool federführend
       beteiligt war. Gedreht wurde in Brandenburg, zum Ensemble zählen viele
       deutsche Schauspieler wie Susanne Lothar, Burkhart Klaußner, Ulrich Tukur
       und Josef Bierbichler.
       
       "Das weiße Band" ist in strengem Schwarzweiß gehalten, die Bilder sind
       perfekt komponiert, aber auch etwas schwerfällig. Haneke studiert das
       soziale Gefüge in einem Dorf im Norden Deutschlands vor dem Ausbruch des
       Ersten Weltkriegs. Es ist ein Gefüge, in dem jeder Mensch seinen festen
       Platz hat und Befehl und Gehorsam das Miteinander regeln. Rätselhafte
       Gewalttaten tragen sich zu, doch der Film ist weniger an deren Aufklärung
       interessiert als daran, die autoritären Verhaltensweisen zu erforschen, die
       fast alle Figuren beschädigen. Dabei überträgt sich die Enge der
       Verhältnisse bisweilen auf den Film, die Autoritätskritik Hanekes wirkt
       umso autoritärer, je unbarmherziger, je rigider sie vorgetragen wird.
       
       Auch andere namhafte Regisseure reisten nicht mit ihren besten Arbeiten an
       die Côte dAzur. Pedro Almodóvars neuer Film "Los abrazos rotos" ("Zerstörte
       Umarmungen") zum Beispiel verlor sich in den Schlaufen und den vielen
       Zeitebenen des ambitionierten Drehbuchs; es fehlte etwas, was den Reigen
       der Figuren zusammengehalten hätte.
       
       Und auch Ang Lee fand in "Taking Woodstock", einer Komödie rund um die
       Organisation des Woodstock-Festivals, nicht zur gewohnten Subtilität. Der
       Film beginnt als eher brave Familienkomödie vor jüdisch-amerikanischem
       Hintergrund; erst als hunderttausende Hippies in dem kleinen Ort White Lake
       nördlich von New York eintreffen, nimmt er Fahrt auf.
       
       Zu viel Bewährtes raubt einem Festival die Luft zum Atem, das weiß auch
       Thierry Frémaux. Um Langeweile vorzubeugen, fügte er ins
       Wettbewerbsprogramm drei Provokationen ein: einen Film des philippinischen
       Regisseurs Brillante Mendozas, "Kinatay", der in körnigen, schlecht
       ausgeleuchteten Digitalvideobildern die Entführung, Vergewaltigung,
       Ermordung und Zerstückelung einer Frau zeigt. "Kinatay" rief viele Debatten
       um die Darstellbarkeit von Gewalt im Kino hervor; die Jury belohnte Mendoza
       mit einem Preis für die beste Regie (was bei der Gala am Sonntagabend mit
       Buhrufen quittiert wurde).
       
       Als zweiter Schock folgte Lars von Triers "Antichrist", eine ins Horrorkino
       und mittelalterliche Vorstellungswelten hineinragende Tour de Force durch
       die versehrten Psychen der Protagonisten. Was in der einen Szene ernst
       gemeint scheint - Verweise auf die Hexenverbrennung, auf Jahrhunderte
       währende misogyne Traditionen oder auf Grundlagen der Psychoanalyse -, wird
       im nächsten Augenblick der Lächerlichkeit anheimgestellt. Die
       Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg erhielt trotzdem eine Auszeichnung
       für ihre Leistung, was angesichts ihrer über Schmerz- und Schamgrenzen
       hinausgehenden Darbietung nachvollziehbar ist.
       
       Der ärgerlichste der Schockfilme war Gaspar Noés Post-mortem-Fantasie
       "Enter the Void", ein Machwerk aus rotstichigen Bildern, subjektiver
       Kamera, drogeninduzierten Farbmustern, Sex und Gewalt.
       
       Mendoza, von Trier und Noé entwarfen ihre Plot- und Figurenkonstellation
       jeweils auf der Grundlage einer fundamental gesetzten
       Geschlechterdifferenz. Bei Noé war das reaktionär, bei von Trier
       schelmisch, bei Mendoza aus einer Ästhetik der Armut geboren.
       
       Das Skandalöse daran liegt weniger im Sadismus oder der offenkundigen
       Provokationslust als darin, wie begrenzt die Vorstellungswelt in Sachen
       Gender an der Croisette ist. Filme, die von dichotomischen Entwürfen nichts
       hielten - etwa João Pedro Rodrigues "Morrer como um homem" über eine Drag
       Queen, die die Blüte ihres Lebens hinter sich hat, oder Souleymane Cissés
       "Min Ye" über eine starke und zugleich sehr widersprüchliche Frau in
       Bamako, die gegen die Mehrfachehe ihres Mannes rebelliert, indem sie sich
       selbst einen Geliebten nimmt, wurden auf Nebenreihen verbannt. Die freilich
       profitierten von der konservativen Ausrichtung des Wettbewerbs.
       
       "Un certain regard" und die "Quinzaine des Réalisateurs" boten in diesem
       Jahr eine reiche, vielgestaltige Auswahl, die eines mit großem Nachdruck
       deutlich machte: Wer behauptet, das Autorenkino sei tot, nur weil es sich
       im Wettbewerb behäbig aufführte, geht mächtig in die Irre.
       
       Reisen durch die Köpfe 
       
       Und dann zeichnete sich noch etwas Bemerkenswertes ab. Viele Filmemacher
       neigten dazu, nicht die äußere Wirklichkeit abzubilden, sondern innere
       Wirklichkeiten in Szene zu setzen. Das Kino hat ja schon immer mit
       erfundenen genauso wie mit vorgefundenen Bildern gearbeitet. In diesem Jahr
       gab es - bei Ken Loach genauso wie bei Park Chan Wook, bei Alain Resnais
       genauso wie bei Sam Raimi - viele Fantasiewelten, viele Rausch- und
       Traumbilder, viele Reisen durch die Köpfe der Figuren, viel Surreales und,
       durch die Formen und Bildwelten des Genrekino untermauert, Fantastisches.
       
       Dabei haben diese erfundenen Bilder etwas Fragiles; sie müssen ihre eigene
       Kohärenz erst erzeugen und setzen sich, so ihnen dies nicht gelingt, der
       Lächerlichkeit aus. Manchmal nehmen sie diese auch bewusst in Kauf - wenn
       etwa in "Antichrist" ein Fuchs "Das Chaos herrscht" in die Kamera sagt, ist
       das Gelächter einkalkuliert. Auch in Tsai Ming-liangs "Visage" weiß man
       bisweilen nicht, was man von den Tableaus aus Spiegeln, Bäumen, Schnee,
       Hirschen und leicht bekleideten Sängerinnen halten will, von Jean-Pierre
       Léaud als melancholischem König Herodes und Laetitia Casta als Salome, die
       mit Dosentomaten hantiert.
       
       Aber dann gibt es eine von Tsai Ming-liangs charakteristischen,
       mehrdimensionalen Einstellungen, und alles wird gut: Links sitzt Fanny
       Ardant, rechts neben ihr steht ein Tisch, darauf das Foto einer
       Verstorbenen und Essensgaben für die Tote. Als sich Ardant einen Apfel
       nimmt, greift auch von rechts eine Hand nach einem Apfel.
       
       Nach dem Schnitt ist der Bildausschnitt etwas größer, Ardant sitzt noch
       immer links, kauend, rechts ist nun vorn ein Aquarium zu sehen, darin
       erscheint wie ein Geist das Gesicht der Verstorbenen. Als der Fisch im
       Schwimmen das Gesicht kreuzt, wird er durchsichtig. Der Geist leuchtet
       durch ihn hindurch.
       
       Wie viel sich gewinnen lässt, wenn man sich von der Wirklichkeit abhebt,
       zeigt Quentin Tarantinos antifaschistische Wunscherfüllungsfantasie
       "Inglourious Basterds", ein Film, der in einem Pariser Kino ein geglücktes
       Attentat auf Hitler inszeniert.
       
       Indem der Film einen alternativen Verlauf der Geschichte entwirft, gibt er
       den Aggressionen, die sich am realen Geschehen entzünden, ein Ventil.
       Diesen Aggressionen mit den Argumenten der Vernunft - Rache macht die, die
       sich rächen, wiederum zu Tätern - zu begegnen, unterdrückt die Empfindung,
       bevor sie sich artikulieren kann. Im Kino geht es aber genau darum, solchen
       Empfindungen eine Gestalt zu geben. Deswegen ist Tarantinos blutiges
       Ausagieren so nötig und so überzeugend.
       
       26 May 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
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