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       # taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Homo sapiens oeconomicus
       
       > Das Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften ist selbst für ihre
       > Adepten obsolet.
       
   IMG Bild: Bei der Kaufentscheidung spielen unbewusst zahlreiche Faktoren eine Rolle
       
       uf jede Krise folgt neues Wachstum - der zweihundert Jahre alte Glaube
       treibt nach wie vor die Modelle der "Wirtschaftsforscher" an. Für 2009
       sehen sie schwarz - zwischen 4 und 7 Prozent Schrumpfung -, aber für 2010
       sagen sie unisono 0,2 bis 0,5 Prozent Wachstum voraus.
       
       Während der Mainstream so auf das "Anspringen" des guten alten
       "Konjunkturmotors" wartet, fangen einige Auguren zu zweifeln an. So hält
       der Chefsvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, die herrschenden
       "Paradigmen rationaler Erwartungen und effizienter Finanzmärkte [für] stark
       beschädigt". Auch Dennis Snower, der Leiter des Kieler Instituts für
       Weltwirtschaft, fordert eine grundlegende Revision der ökonomischen Modelle
       und weist sogleich den Weg: Die Ökonomie müsse "Erkenntnisse aus den
       Neurowissenschaften, aber auch aus Psychologie und Anthropologie
       heranziehen, um die Annahmen über menschliches Verhalten realitätsnäher zu
       machen".
       
       Erkenntnisse über den Homo sapiens sollen dem Homo oeconomicus aus der
       Patsche helfen. Seit ein paar Jahren dient sich die "Neuroökonomie" an, die
       Weltbildlücken der Ökonomieprofessoren zu stopfen. In ihrer Vulgärform
       untersucht sie die Gehirnregionen, in denen die "Gier" sitzt, erklärt den
       fehlenden Sinn für faire Managergehälter aus den Windungen des präfrontalen
       Stirnlappens. Die Logik dahinter lautet: Nicht das System ist defekt,
       sondern ein paar Exemplare des Homo Sapiens ticken nicht richtig. Aber was
       kaputt ist, kann man reparieren.
       
       So arbeiten der nobelpreisverdächtige Professor Ernst Fehr und seine
       Kollegen in Zürich an Empathie-Trainingsprogrammen, damit Manager den
       Sprung vom Ich zum Wir schaffen. Sie sprühen Probanden Oxytocin in die
       Nase, die daraufhin einem Geschäftspartner noch vertrauen, obwohl er sie
       schon einmal betrogen hat. Oder sie lassen Kleinkinder Smarties aufteilen -
       und die frohe Botschaft lautet: Ja, wir sind egoistisch, aber wir haben
       auch eine Art "Instinkt" für Gerechtigkeit. Diese schönen Eigenschaft habe
       sich evolutionär so verfestigt, dass wir heute - worüber die Forscher echt
       staunen - dem Taxifahrer sein Geld geben, statt einfach wegzulaufen.
       
       In der Tat unterscheidet die Fähigkeit zu Kooperation und Vertrauen unsere
       "Natur" von der anderer Primaten. Aber die kurzschließende Plünderung
       anthropologischer Forschung wird die prognostische Präzision der
       ökonomischen Wissenschaft nicht erhöhen. Denn die Gemeinschaftsgefühle, die
       dort untersucht werden, mögen für die "Lebenswelt" von Familien und Clans
       fundamental sein, hochkomplexe gesellschaftliche Systeme können sie nicht
       stabilisieren. Der Markt kennt kein "Wir" (vgl. Adam Smith). Seit es
       sesshafte Kulturen gibt - mit Eigentum, Klassenherrschaft und Staaten -,
       überlagern andere Regeln die "menschliche Natur": die Religion und das
       Recht. Und die Sozialpsychologie, von Horkheimer und Adorno bis zur
       Gefühlssoziologin Eva Illouz, hat gezeigt, dass in den letzten
       Jahrhunderten noch etwas hinzukam, das die Seelen mit Individualismus,
       Optimierungsdenken und Wachstumsoptimismus imprägnierte. Der harte
       Untergrund dieser Eigenschaften ist die fossil angetriebene Produktivität
       des Kapitalismus, bis zu dessen Beginn die Geschichte nur Wachstumszahlen
       von 0,2 Prozent kannte.
       
       Für ein "neues Paradigma" aber gibt selbst eine um historische Psychologie
       angereicherte Ökonomie nichts her. Überwinden könnte ihn allein eine
       Wirtschaftswissenschaft, die von den äußeren Zwängen allen Wirtschaftens
       ausginge: von der Endlichkeit des Naturstoffs und von der kulturell
       erworbenen Schranke, die den Homo sapiens (wie lange?) resistent macht
       gegen die Ökonomisierung aller körperlichen und seelischen Regungen. Eine
       solche Ökonomie wäre allerdings nicht die "Königin der
       Sozialwissenschaften" (Fehr), sondern die Magd der Politik. Denn die ist
       der in Jahrtausenden entstandene kulturelle Mechanismus der "Wir"-Bildung,
       von der Ermordung nichtkooperativer Gruppenmitglieder in den Horden des
       Homo erectus über die despotische Herrschaft bis ihrer Sublimierung in der
       Wirtschaftsdemokratie.
       
       Das aber hieße: Die Wirtschaftswissenschaft muss sich methodisch um 180
       Grad wenden. Nicht länger vom Homo oeconomicus her die Menschenwelt denken,
       sondern den historisch geformten Homo sapiens et politicus zugrunde legen
       und dann fragen: welche Ökonomie der braucht - und will. Eine solche
       Ökonomie würde, statt ihr Denken an der Zielgröße "Wachstum" zu
       orientieren, von politisch gewollten Szenarien ausgehen und
       Handlungsoptionen für deren Herstellung erarbeiten.
       
       Hier sind, zum Anfang eines solchen Umdenkens, ein paar Fragen für
       Westeuropäer: "Wie können unter Globalisierungsbedingungen (also dem Zwang
       zur globalen Kooperation) folgende Politikziele ohne (weltzerstörendes)
       Wachstum erreicht werden: Vollbeschäftigung, intakte Umwelt,
       Generationengerechtigkeit, Bildung, Forschung, Innovation …, soziale
       Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, öffentliche Daseinsvorsorge …? Welche
       neuen Verhaltensweisen und welche konkreten politischen Rahmenbedingungen
       sind hierfür notwendig?"
       
       Das klingt nicht übel, dabei kommen diese Fragen einer "instrumentellen
       Ökonomie" leider nicht aus einer Attac-Lesegruppe, nicht aus einem
       Programmentwurf der Linkspartei und auch nicht aus einem Manifest des
       CDU-Heiligen Müller-Armack, sondern sie stammen aus dem
       liberalkonservativen "Denkwerk Zukunft" des nicht gerade
       egalitätsversessenen Professors Meinhard Miegel.
       
       Fragen dieser Art sind hilfreich für die Revolutionierung der ökonomischen
       Wissenschaft - und für große Koalitionen neuer Art. Doch Vorsicht: Auf das
       Kleingedruckte wird zu achten sein. Denn das Klima retten, den Weltfrieden
       und die Gerechtigkeit sichern sowie den Hunger abschaffen - wer wäre
       dagegen? Aber der patronalistisch-kapitalistische Weg zu diesen hehren
       Zielen ist ein anderer als derjenige, der 1789 begann. Ein ganz anderer.
       
       21 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mathias Greffrath
       
       ## TAGS
       
   DIR Hirnforschung
       
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