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       # taz.de -- "Gemeinschaften" von Zygmunt Bauman: Elitäre Blase in L. A. oder Tokio
       
       > Zygmunt Bauman, der große alte Soziologe, hat ein neues Buch geschrieben:
       > auf der Höhe zeitgenössischer Diskurse und mit einer sprachlichen
       > Eleganz, die unprätentiös jeglichen Jargon vermeidet.
       
   IMG Bild: Sorgte natürlich auch für Widerspruch: Zygmunt Bauman (im Jahr 2010)
       
       Das Buch setzt mit einer Lobpreisung ländlicher und sonstiger
       Kleingemeinschaften ein, die den Leser ob so viel Gemeinschaftspathos den
       Kopf schütteln lässt. Aber gleich darauf, mit Beginn der "ursprünglichen
       Akkumulation" des Kapitals und der Industrialisierung, ändert sich der Ton
       radikal. Und nun versteht man erst, wozu Bauman die Romantisierung der
       Gemeinschaftsvorstellung dient: Er weist sie als unstillbare, immer
       wiederkehrende Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit aus. Die Urszene der
       Industrialisierung erscheint da wie eine Erbsünde, die uns endgültig aus
       dem Paradies der Gemeinschaften vertrieben hat. In dem epischen Konflikt
       zwischen Schutz und Freiheit ist die "Suche nach Sicherheit" ein bleibendes
       gesellschaftliches Movens.
       
       Und dann kommt ein furioses Kapitel über die heutigen Eliten. Diese
       bestimmen sich wesentlich dadurch, dass sie die "Geschichte der großen
       Bindungen der Moderne, das Abenteuer der sozialen Lenkung durch Manager und
       Ingenieure" - vom Taylorismus bis zum Fordismus - hinter sich gelassen
       haben. Die heutigen Eliten haben kein Interesse mehr daran, andere zu
       regulieren, so Baumans Definition von Deregulierung. Wir haben es mit einer
       "Sezession der Erfolgreichen" zu tun. Statt zu herrschen, haben sie sich
       für die Abspaltung entschieden, statt die Massen zu binden, haben sie sich
       von ihnen verabschiedet. Sie haben sich zurückgezogen in die
       Exterritorialität eines elitären Kosmopolitismus, in "eine soziokulturelle
       Blase" zwischen Tokio, New York, London und Los Angeles. Sie bilden nur
       noch wechselnde "ästhetische Anlassgemeinschaften". Und da wird deutlich,
       dass der Gemeinschaftsbegriff an die Stelle eines ganz anderen Begriffs
       tritt: er ersetzt die Kategorie "Klasse". Die flexiblen Eliten sind so
       individualisiert, dass sie nicht mehr als Klasse bestimmt werden können,
       was ja einen gewissen Grad an Kollektivität voraussetzt, sondern nur noch
       als "Gemeinschaft der Nichtzugehörigen, als Vereinigung der Einzelgänger".
       
       Was dieser Elite gegenübersteht, ist kein Proletariat, keine Klasse der
       Ausgebeuteten und Unterdrückten. In unserer "liquiden Moderne" ist auch die
       Masse zu keiner dauerhaften Gemeinschaftsbildung, die ein politischer
       Akteur brauchen würde, mehr fähig. Gemeinschaft wird im Verlauf des Buches
       immer mehr zu einer Kategorie, die ihre eigene Abwesenheit markiert.
       
       Aber was ist mit den ethnischen Gemeinschaften? Sind das etwa keine
       Gemeinschaften? Sind das etwa keine politischen Akteure, die um ihre
       Anerkennung kämpfen? Bauman antwortet mit einer vehementen Abrechnung mit
       dem Multikulturalismus. Er sieht sehr wohl die Notwendigkeit solcher Kämpfe
       um Anerkennung, aber gleichzeitig warnt er vor der Verabsolutierung der
       kulturellen Differenzen. Reine Identitätskämpfe sind für den 83-jährigen
       jüdischen Polen Bauman gar nicht so demokratisch, wie das die Kulturlinke
       seit den 70er-Jahren behauptet. Sie verbergen vielmehr einen
       fundamentalistischen Zug, wenn sie nur als Selbstverwirklichung betrieben
       werden. Solche Identitätskämpfe sind für ihn nur dann emanzipatorisch, wenn
       sie im Kontext von Umverteilung geführt werden. Und hier sind wir bei
       Baumans zentralem Credo angelangt: Gerechtigkeit lässt sich heute nur dann
       erzielen, wenn sie sich auf soziale Gerechtigkeit beruft. Nur in der
       Verbindung mit Verteilungsgerechtigkeit führen Forderungen nach Anerkennung
       zu dem, worum es Bauman zu tun ist und woran es heute mangelt: zu einer
       "ethischen Gemeinschaft", die sich durch Gleichheit der Ressourcen und
       durch kollektive Absicherung gegen individuelle Defizite und
       Schicksalsschläge auszeichnet.
       
       Spätestens hier wird klar, warum der Mangel an Jargon zu loben ist. Denn
       was Bauman hier vorlegt, ist ein Pamphlet gegen die Kulturlinke, das nicht
       hinter deren Errungenschaften zurückfällt. Ohne erhobenen Zeigefinger, ohne
       den Duktus der dogmatischen Linken und mit größtem Verständnis für
       gegenwärtige Lebensformen gibt er eine eindeutige Stellungnahme für soziale
       Gerechtigkeit ab. Ein wirklich lesenswertes Buch.
       
       Zygmunt Bauman: "Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer
       bedrohlichen Welt". Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag,
       Frankfurt/M. 2009, 180 Seiten, 12 Euro
       
       16 Apr 2009
       
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   DIR Isolde Charim
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