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       # taz.de -- Brustkrebs-Früherkennung: Kneten gegen Krebs
       
       > Marie-Luise Voll ist eine von neun Brusttasterinnen in Deutschland. Die
       > blinde Frau hat ein besonderes Fingerspitzengefühl entwickelt: Damit kann
       > sie Brustkrebs im Frühstadium entdecken.
       
   IMG Bild: Viele Patientinnen entscheiden sich für eine Medizinische Tastuntersucherin.
       
       DUISBURG taz Für die Hände von Marie-Luise Voll ist Dorit Schmidt 60
       Kilometer mit dem Auto gefahren. Von Dortmund, wo sie wohnt, nach
       Duisburg-Walsum, wo Marie-Luise Voll arbeitet. Dorit Schmidt liegt auf
       einer Pritsche in einem schummrigen Raum in der "Praxis für Frauen", ihr
       Oberkörper ist entblößt. Die Hände von Marie-Luise Voll sind warm und
       weich, sie kleben schmale Papierstreifen auf beide Seiten der rechten Brust
       von Dorit Schmidt und einen genau über die Brustwarze, sie teilen den Busen
       in Zonen ein. Marie-Luise Volls Hände drücken, kneten und streichen über
       die Brust. Sie wandern tastend von unten nach oben und von einer Seite zur
       anderen. Sie fragt: "Spüren Sie irgendwo einen Schmerz?" "Nein", sagt Dorit
       Schmidt.
       
       Später wird Marie-Luise Voll das Ritual an der linken Brust wiederholen und
       am Ende zur Patientin sagen: "Alles in Ordnung." Das Ganze dauert eine
       halbe Stunde, dann wird sich Dorit Schmidt wieder in ihr Auto setzen und
       eine knappe Stunde zurück nach Hause fahren. Warum nimmt sie diese Tour auf
       sich? Es gibt doch auch in Dortmund jede Menge Gynäkologen, die bei der
       Reihenuntersuchung Brüste auf Veränderungen hin abtasten.
       
       Marie-Luise Voll, 57, ist keine Frauenärztin. Sie untersucht die Frauen
       auch nicht "untenrum". Sie widmet sich ausschließlich den Brüsten. Denn sie
       hat eine ganz besondere Begabung: Sie kann Brustkrebs ertasten. Außer ihr
       können das in der Bundesrepublik nur noch neun weitere Frauen, so in
       Aachen, Kreuzau und Paderborn. Diese Frauen nennen sich MTU, Medizinische
       Tastuntersucherinnen. Das, was sie tun, ist völlig neu in der medizinischen
       Praxis.
       
       Laut Berufsbildungsgesetz ist MTU auch kein richtiger Beruf, sondern eine
       "Fortbildung zu einer ärztlichen Hilfstätigkeit". Das klingt nach
       schlichter Zuarbeit. Aber es ist weitaus mehr. Marie-Luise Voll hat dafür
       neun Monate lang Theorie gelernt, an Gummibrüsten und Matten geübt und ein
       zehnwöchiges Praktikum hinter sich. Jetzt ist die Brusttasterin aus der
       Duisburger Praxis nicht mehr wegzudenken, seit einem Jahr arbeitet sie
       hier. Frank Hoffmann, Gynäkologe in einem Frauenärztehaus an der Ecke einer
       stark befahrenen Straße, verlässt sich auf die Hände seiner neuen
       Fachkraft. Er sagt: "Keine tastet besser als sie." Das hat sich
       herumgesprochen wie ein Lauffeuer, die Frauen pilgern sogar aus Bayern und
       Holland zu Marie-Luise Voll.
       
       Da ist noch etwas: Marie-Luise Voll ist blind, der grüne Star hat ihr über
       Jahre hinweg das Augenlicht geraubt. Das eine hat mit dem anderen direkt zu
       tun: Erst durch ihre Sehbehinderung ist die große, schlanke Frau mit dem
       leicht ergrauten Haar Brusttasterin geworden. "Und das ist gut so", sagt
       sie: "Ich liebe meine Arbeit sehr."
       
       Zehn Quadratmeter, Liege, Hocker, Waschbecken, Schreibtisch, alles hat
       seinen bestimmten Platz im Arbeitsraum der blinden Tasterin, hier kennt sie
       jeden Zentimeter. Sie macht zwei Schritte zum Schreibtisch. Nach dem Tasten
       folgt die Schreibarbeit. Im Computer protokolliert sie haarklein, was sie
       ertastet hat: Gewebedichte, Hohlwarzen, Temperaturunterschiede in den
       Brüsten, mediale Veränderungen, aber auch Veränderungen direkt unter der
       Haut oder nah am Brustkorb. Bei Dorit Schmidt muss Marie-Luise Voll nicht
       viel tippen, die Brüste sind tipptopp. Marie-Luise Volls Finger flitzen
       über die Tastatur, sie schreibt schnell wie eine Sekretärin. Nur wenn sie
       noch einmal lesen will, was sie notiert hat, kommt die Blindentechnik ins
       Spiel. Vor der normalen Tastatur liegt eine mit Brailleschrift. Die MTU
       klickt die Patientenakte von Dorit Schmidt an, der Text wird in die
       Blindenschrift übertragen.
       
       Dorit Schmidt ist 45 Jahre alt, hat zwei Kinder, raucht nicht, und es gibt
       keinen Krebs in der Familie. Sie ist also nicht sonderlich gefährdet. Aber
       sie will auf Nummer sicher gehen. Man liest und hört ja so viel in letzter
       Zeit von Tumoren, die zu spät erkannt werden, sagt sie. Und die
       Mammografie, das Röntgen der Brust, ist erst für Frauen ab 50 vorgesehen.
       
       Tasten versus Technik? Nein, sagt Frank Hoffmann, darum geht es nicht: "Das
       Tasten ist eine Ergänzung." Der Frauenarzt hat sich die Tastuntersuchung
       ausgedacht. Manche Gewebeveränderungen erkennt man nur beim Ultraschall,
       andere macht die Mammografie sichtbar, und wiederum andere stellt man beim
       Tasten fest. In den westlichen Ländern ist Brustkrebs die häufigste
       Krebserkrankung bei Frauen, an ihm sterben mehr Frauen als an anderen
       Krebsarten.
       
       Frank Hoffmann, 49, kennt alle diese Statistiken, und er weiß, was es
       heißt, einer Frau sagen zu müssen, dass sie Krebs hat. Erst neulich hatte
       er wieder so einen Fall: eine junge Frau, 27, am Anfang ihres Lebens,
       Lymphdrüsenkrebs, Marie-Luise Voll hat ihn ertastet, kleine Knötchen in der
       Achselhöhle. "Das ist bitter", sagt der Arzt. Aber: Brustkrebs ist heilbar
       - wenn er früh genug erkannt wird. Eine bestmögliche Vorsorge ist da
       unerlässlich. Aber die braucht Zeit. Frank Hoffmann hat sie oft nicht. Das
       ist die Krux: Seine Praxis ist nicht nur eine medizinische Einrichtung,
       sondern auch ein Wirtschaftsunternehmen. 17,85 Euro darf der Mediziner den
       Krankenkassen für eine komplette Krebsvorsorge in Rechnung stellen:
       Muttermunduntersuchung, Brustabtasten, Abstrich. "Wenn das mehr als zehn
       Minuten dauert, ist es unrentabel", so Frank Hoffmann.
       
       Das geht so nicht, sagte er sich irgendwann. Und überlegte, wie und wen er
       für eine Extrabrustuntersuchung anlernen könnte. Eine seiner
       Praxisschwestern? Eine aus dem Krankenhaus? Da hatte er eines Morgens eine
       Eingebung: eine blinde Frau. "Blinde", sagt er, "haben doch das besondere
       Fingerspitzengefühl."
       
       Anderthalb Stunden entfernt von Duisburg liegt Düren. Die Strecke dorthin
       kennt Frank Hoffmann im Schlaf, er ist sie x-mal gefahren. In der
       mittelgroßen Stadt am Rande der Nordeifel, in einem siebenstöckigen weißen
       Neubau, ist das Berufsförderungswerk (bfw) untergebracht. Die Flure sind
       breit, es steht nichts im Weg. Denn diejenigen, die sich hier zum Koch, zur
       Bürofachkraft oder zur Verwaltungsfachangestellten ausbilden lassen, können
       nichts sehen. Viele von ihnen hatten früher andere Berufe, aber seit sie
       blind sind, können sie in ihren Jobs nicht mehr arbeiten. Marie-Luise Voll
       war einmal Krankenschwester.
       
       Bis zu dem Tag, als Frank Hoffmann vor zwei Jahren in Düren durch die Tür
       zu Katrin Zirkes Büro trat, hatte die Reha-Ausbilderin beim bfw noch nie
       etwas vom Tätigkeitsbild einer Tastuntersucherin gehört. Aber sie konnte
       sich das sofort vorstellen, Katrin Zirke hat schon vieles auf den Weg
       gebracht für "ihre" Blinden, die im öffentlichen Bild kaum auftauchen.
       Zwischen 155.000 und einer halben Million Sehbehinderte gibt es in
       Deutschland. Diese Zahl hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband
       geschätzt, offizielle Statistiken gibt es nicht.
       
       Frank Hoffmann musste nicht viel reden, das Pilotprojekt MTU war schnell
       beschlossen, für die wissenschaftliche Begleitung holten sich die beiden
       die Universität Essen ins Boot. Am Anfang glauben Katrin Zirke und Frank
       Hoffmann, dass am ehesten Frauen aus medizinischen Berufen Tasterinnen
       werden können. "Aber schnell merkten wir, dass das Quatsch ist", sagt
       Katrin Zirke. Eine Tasterin war zum Beispiel Klavierstimmerin, eine andere
       Telefonistin, zwei hatten vorher in Büros gearbeitet. "Nur in der Theorie
       hatte ich einen Vorsprung", sagt Marie-Luise Voll.
       
       In der Branche findet das Projekt nicht ungeteilte Zustimmung. Noch sagt es
       kein Mediziner laut, aber manche Frauenärzte wittern in den Tasterinnen
       Konkurrenz. Laufen Frauen wie Marie-Luise Voll den Fachleuten jetzt den
       Rang ab? Frank Hoffmann winkt ab: "Alles Unsinn." Und: Die letzte
       Verantwortung liegt beim Arzt. Frank Hoffmann entscheidet, was zu tun ist,
       wenn Marie-Luise Voll etwas Unerwünschtes findet. Und Frank Hoffmann ist
       es, der den Frauen sagt: "Machen Sie beides: Tasten und Mammografie."
       
       6 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
   DIR Simone Schmollack
       
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