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       # taz.de -- Schriftstellertreffen in Berlin-Wannsee: Die Welt der heimlichen Manuskripte
       
       > Werkstattgespräche in Berlin: 19 SchriftstellerInnen - von Lutz Seiler
       > bis Katja Lange-Müller, von Jan Böttcher bis Elke Erb - trafen sich, um
       > über Texte und ihre Bedingungen zu diskutieren.
       
   IMG Bild: Einer der Teilnehmer war Ingeborg-Bachmann-Preisträger Lutz Seiler.
       
       Unverschämt blau strahlte die Oberfläche des Wannsees. Erst wenn man dem
       Weg von der Terrasse hinab durch den Garten gefolgt war, hatte sich das
       Blau in eine brackig-braune Brühe verwandelt, in Ufernähe zumindest. Weiter
       hinten schien es wieder blau zu schimmern. Aber wer wollte das von hier aus
       entscheiden? Aus der Ferne hui, von Nahem pfui - zum Glück lässt sich dies
       Perspektivspiel ganz und gar nicht als Bild für eine Zustandsbeschreibung
       der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verwenden, der man zwei Tage lang
       im Literarischen Colloquium Berlin sehr nahekommen konnte. Auch aus der
       Nähe strahlte da vieles. Trotzdem schob sich der See unweigerlich immer
       wieder ins Blickfeld, während die 19 geladenen Autoren und Autorinnen
       (hinter fast verschlossenen Türen) aus ihren Manuskripten lasen und sie
       gemeinsam diskutierten.
       
       Die Veranstaltung "Der Tunnel über der Spree", die seit 20 Jahren
       regelmäßig im LCB stattfindet, ist ein möglicher Indikator für die
       Richtung, die die Gegenwartsliteratur gerade einschlägt, vor allem aber
       eine Textwerkstatt auf sehr hohem Niveau. Hochkarätig besetzt war das
       Schriftstellertreffen in diesem Jahr. Alte Literaturbetriebsschlachtrösser
       wie Katja Lange-Müller, Thomas Meinecke oder Uwe Kolbe trafen auf Autoren
       der jüngeren Generation wie Judith Schalansky, Sherko Fatah, Kristof
       Magnusson oder Jan Böttcher. Lyrik von Elke Erb und Kathrin Schmidt stand
       neben Prosa von Georg M. Oswald, Ulrike Draesner oder Gert Loschütz.
       
       Angesichts dieser Vielzahl unterschiedlicher Autoren und Genres hatte sich
       die beliebte Frage nach dem einen gegenwärtigen Trend der Literatur von
       vornherein erledigt. Was durchaus sein Gutes hatte, konnte man doch so die
       beiden Tage als eine Art heilsame Verlangsamung nehmen, während der
       jenseits von Rankings und abseits von Herbst- und Frühjahrsvorschauen über
       Literatur und mehr noch über die Bedingungen des Machens von Literatur
       gesprochen wurde, über die Balance von Realismus und Imaginärem innerhalb
       von Texten, weniger indes über die Wechselwirkungen von Literatur und
       Realität.
       
       Beobachter, die bereits in früheren Jahren an dem Autorenzirkel
       teilgenommen hatten, vermissten während der Pausen diesmal
       gesellschaftspolitische Dimensionen. In der Tat wurde in den an die
       Lesungen anschließenden Diskussionen mehr zugewandt als programmatisch
       argumentiert, mehr für einen und mit einem Text gedacht, anstatt von
       ideologischer Warte aus Schreibweisen und Inhalte auf ihre grundsätzliche
       Tragfähigkeit abzuwägen. Aber anstatt das für Beliebigkeit zu halten, kann
       man auch sagen, dass das Vorhaben eines Werkstattgesprächs diesmal sehr
       ernst genommen wurde. Uwe Kolbe, der sich in seiner Erzählung mimikryartig
       an Hölderlin und dessen Sprache herangeschrieben hatte, wurde genauso
       gelten gelassen wie die sehr klassische Erzählweise von Gert Loschütz, Jan
       Böttchers mitreißend rhythmische Prosa oder der mit
       Science-Fiction-Elementen durchzogene Romanausschnitt, den Georg M. Oswald
       las.
       
       Eine Ausnahme bildete die Diskussion über den Text von Thomas Lehr, der
       sich als Einziger ein dezidiert politisches Thema vorgenommen hatte. Lehr
       stellte ein Romanprojekt vor, das einen Bogen von 9/11 zum Irakkrieg
       schlägt, und las eine Passage, in der eine Romanfigur versucht, aus
       Medienpartikeln ein Bild von George Bush zusammenzufügen. Anschließend
       wurde nicht über die Struktur des Textes gesprochen, in der lyrische
       Einschübe und Zeilenumbrüche die Melodie und Lesart des Erzählten lenken.
       Inwieweit es legitim sei, einzig durch medial vermittelte Sequenzen das
       Porträt einer Person zu entwerfen, stand zur Debatte. Und ob es nicht gar
       zu einfach und bruchlos sei, sich mit Bush jemanden vorzunehmen, über
       dessen Verdammung so weitgehender Konsens herrsche. Lehr tat gut an dem
       Hinweis, dass durch die Kontextualisierung der gelesenen Passage im
       Gesamttext Differenzierungen ohnehin vorhanden seien, was natürlich in
       einer 15-minütigen Lesung kaum deutlich werden könne.
       
       Subtiler und zugleich skurriler fand sich das Politische bei Judith
       Schalansky, die man im vergangenen Jahr durch ihr wunderbar eigenwilliges
       Debüt "Blau steht dir nicht. Matrosenroman" kennenlernen konnte. In ihrem
       neuen Roman nun liefert die Verödung ostdeutscher Städte den Hintergrund,
       vor dem Schalansky stellvertretend über das Dahinsiechen eines Gymnasiums
       erzählt, das passenderweise den Namen "Darwin" trägt.
       
       Lässt man mal Schalansky und Lehr außen vor, dann spiegelte sich in den
       Texten und anschließenden Diskussionen recht gut eine grundsätzliche
       Tendenz seit 1989 wider. Nach dem Ende dessen, für das der Kritiker Ulrich
       Greiner nach dem Mauerfall das Schlagwort der Gesinnungsästhetik prägte,
       hat sich der Literatur auf allen Ebenen, sprachlichen wie inhaltlichen,
       mehr Spielraum eröffnet.
       
       Ein wenig mehr über diese Entwicklungen der letzten 20 Jahre zu erfahren,
       hätte man sich von der öffentlichen Abschlussveranstaltung erhofft, in der
       Katja Lange-Müller, Gert Loschütz und Georg M. Oswald über die
       Veränderungen des Literaturbetriebs seit der Wiedervereinigung sprechen
       sollten. Das Gespräch allerdings kam über die Vor- und unmittelbaren
       Wendejahre selten hinaus. Sicherlich muss man nicht so weit gehen wie
       Thomas Lehr, der in diesem Zusammenhang zu einem Rundumschlag gegen die
       Literatur der Siebziger- und Achtzigerjahre ausholte, die nach Lehr durch
       ihre politische Ambitioniertheit sämtliche ästhetischen Standards eingebüßt
       habe. Gleichwohl kann aber selbstverständlich eine Literatur, die nicht
       durch politisch-moralische Korrektheit ihre Daseinsberechtigung erhält,
       sehr viel wesentlicher auf ihre ästhetischen Qualitäten geprüft werden. Den
       diesjährigen "Tunnel über der Spree" sollte man als Mahnung nehmen, dass es
       an der Zeit ist, sich mal wieder ganz grundsätzliche über solche Maßstäbe
       zu verständigen, jenseits von Trends, Kontexten und großen Thesen.
       
       Denn was das Lesen von Texten angeht, das Gespür für Sprache und das Wissen
       um das Funktionieren und Nichtfunktionieren von formalen Mitteln, lieferten
       einige der Autoren des Tunnels zuweilen Glanz- und Lehrstücke. Unschlagbar
       lakonisch und unwidersprechbar Katja Lange-Müller ("Ick weeß, waste meinst,
       aber dit funktioniert nich. Det streichste ma"). Rhetorisch und
       intellektuell ausgefeilt Burkhard Spinnen, der Texte immer auf
       beeindruckend erhellende Weise weiterdachte. Davon könnte mancher Kritiker
       sich getrost etwas abschauen. Über das Feuilleton wurde natürlich ohnehin
       geradezu reflexhaft polemisiert. FAZ-Ton der Neunziger ist offenbar so
       ungefähr das Mieseste, was in Autorenkreisen über das sprachliche Niveau
       eines Textes zu sagen ist. Aber geschenkt. Ein bisschen Dünkel darf schon
       sein.
       
       Wobei der Grat, auf dem die Diskussionen sich bewegten, auch am LCB ein
       schmaler war. Immer mal wieder kippte ein Gespräch, das eben noch mit
       brillanter Leichtigkeit über die notwendigen Zusammenhänge von Textlänge
       und zu erzählendem Konflikt reflektiert hatte, in Abgründe von
       erschreckender Neunmalklugheit.
       
       Das bekam etwa Lutz Seiler, Bachmann-Preisträger im Jahr 2007, zu spüren.
       Vielleicht hing es damit zusammen, dass er sich selbst zunächst für einen
       harten, eigenartig pathetischen Realismusbegriff starkgemacht hatte. (So
       soll sich ein Autor, wenn es nach Seiler ginge, verpflichtet fühlen, als
       eine Art literarischer Chronist aufzutreten, um auf diese Weise Orte und
       Dinge vor dem Vergessen zu bewahren.) Das Gespräch über Seilers groteske
       Erzählung um das einsame Sterben eines Schriftstellers verstieg sich
       hernach in eine nicht enden wollende Schleife, in der mit
       pseudomedizinischem Sachverstand über die letalen Dosierungen von
       Kopfverletzungen debattiert wurde.
       
       Vermutlich war es einfach so, dass die Autoren ganz gern ignorieren
       wollten, wovon Seiler ausgerechnet in der letzten Lesung erzählte: die
       Hybris eines Schriftstellers, der schließlich an seiner Spießbürgerlichkeit
       zugrunde geht. Als Seilers Autor, verausgabt und übermüdet durch die Arbeit
       an seinem "Werk", noch einmal das Bett verlassen will (er vergaß, sich die
       Zähne zu putzen), schlägt er sich an der Dachschräge den Kopf auf und
       verblutet. Sowohl Hybris als auch Lebensuntüchtigkeit wären allerdings, so
       dankbar die Pointe auch ist, tatsächlich nicht, was man von diesem Treffen
       am Wannsee mitnehmen sollte.
       
       Wenig Sorgen um Literatur 
       
       Dass Georg M. Oswald während der Abschlussveranstaltung am Freitagabend gut
       gelaunt vom Podium hinab verkündete, man solle sich angesichts des in den
       vergangenen Tagen Gehörten um die Zukunft der deutschen Literatur
       keinesfalls sorgen, war zwar mehr der langsam, aber sicher aufgekratzten
       Klassenfahrtsatmosphäre geschuldet, in die man sich bei solchen
       Gelegenheiten gern hineinschaukelt, im Grunde aber gar nicht so falsch.
       
       Der See war längst in tiefes Schwarz gehüllt, als die letzten Gäste mit dem
       guten Gefühl die Terrasse verließen, dass es einfach manchmal so ist, dass
       Bilder gut klingen, aber wenig zu sagen haben. Der blaue See mag braun
       sein, wenn man ihn von Nahem betrachtet. Um sich darüber klar zu werden,
       dass das aber rein gar nichts mit der hier verhandelten Literatur zu tun
       hat, hätte es allein genügt, Elke Erb zu lauschen. Wie sie Gedichte las,
       über imaginäre und imaginierte Veilchen auf Gemälden, oder wie sie in
       verschmitzter Weisheit und immer wieder ehrlich staunend Besonderheiten an
       den Texten ihrer Autorenkollegen entdeckte - zum Niederknien.
       
       6 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wiebke Porombka
       
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