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       # taz.de -- Inklusion: Schnelle Auflösung der Förderschulen
       
       > Schleswig-Holstein will seine Sonderschulen binnen zehn Jahren
       > abschaffen. Das ginge kostenneutral, wie auch ein Gutachten für Bremen
       > zeigt. Beide Länder sind Vorreiter in Sachen Integration. UN-Konvention
       > zwingt alle Bundesländer zum Handeln.
       
   IMG Bild: In Schleswig-Holstein ganz normal: Blinde Schüler, die an normalen Schulen unterrichtet werden.
       
       Als im November in Genf die 48. Weltbildungskonferenz der Unesco tagte,
       wurde Ute Erdsiek-Rave als Vertreterin Deutschlands von Ministern anderer
       Länder schief angeguckt. Denn nur Deutschland leistet sich ein System, das
       Kinder mit Lernproblemen in großem Umfang in Sonderschulen ausgrenzt.
       
       "Das war schon unangenehm", erinnert sich Schleswig-Holsteins
       Bildungsministerin. Und ein bisschen ungerecht. Ist ihr Land doch zusammen
       mit Bremen bundesweit Vorreiter in Sachen Integration. Fast die Hälfte, 45
       Prozent, der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen normale
       Schulen.
       
       Aber das ist nicht viel im internationalen Vergleich, wo man das
       Sonderschulwesen für Kinder mit Lernstörungen als solches nicht kennt und
       nur eine Minderheit von 15 Prozent der potentiellen Sonderschüler auf
       Spezialschulen geht. Auch Deutschland muss jetzt, so besagt eine
       UN-Konvention, die am 1. Februar gültig wurde, sein Bildungssystem
       "inklusiv" gestalten. Alle Länder sollen die Konvention bekannt machen und
       eine Analyse erstellen.
       
       Erdsiek-Rave geht nun mit gutem Beispiel voran. Das Jahr 2009 soll mit
       Veranstaltungen und sogar einem Song-Contest das Thema "Inklusion" bekannt
       machen. "Es geht auch darum, tief sitzende Vorurteile zu überwinden", sagt
       die SPD-Politikerin. "Zum Beispiel, dass benachteiligte Kinder in einem
       inklusiven Schulsystem leiden und starke Schüler durch gemeinsames Lernen
       ,heruntergezogen' werden."
       
       Das Nordland blickt schon auf 20 Jahre Integrationspolitik zurück, davon
       zeugt eine deutliche Kurve in der Statistik. Waren 1993 nur 18 Prozent der
       potentiellen Sonderschüler integriert, so sind es heute 45,3 Prozent. "Kern
       dieser Entwicklung ist, dass wir die Sonderschulen schrittweise zu
       Förderzentren umgewandelt haben", sagt Erdsiek-Rave. Von diesen Zentren
       schwärmen die Pädagogen aus, um vor Ort in Schulen Kinder zu unterstützen.
       Nebenher gibt es auch Schüler, die in diesen Zentren unterrichtet werden,
       doch der Trend geht zum Zentrum ohne Schüler.
       
       So hat das "Landesförderzentrum Sehen" in Schleswig keine Kinder mehr.
       Kommt ein blindes Kind zur Schule, wird vom Zentrum dafür gesorgt, dass die
       nötigen Hilfsmittel zur Verfügung stehen. In den ersten zwei Jahren ist
       dann tagesweise ein Sonderpädagoge in der Klasse. Später, wenn das Kind
       schon Blindenschrift kann, nur sporadisch. Auf diese Weise gehen die rund
       800 blinden Kinder des Landes auf normale Schulen. Doch die Mehrheit der
       Kinder mit Förderbedarf, eben 55 Prozent, werden noch in Förderzentren
       unterrichtet. In zehn Jahren will Erdsiek-Rave diesen Anteil auf
       internationales Niveau senken.
       
       Dass das geht, auch realistisch rasch und ohne große Mehrkosten, haben die
       Wissenschaftler Ulf Preuß-Lausitz und Klaus Klemm in einem Gutachten für
       die Stadt Bremen ausgeführt. "Man kann ein inklusives Bildungssystem
       kostenneutral schaffen. Das ist eine Frage des politischen Willens", sagt
       Preuß-Lausitz. Sein Modell lasse sich auch problemlos auf
       Schleswig-Holstein übertragen.
       
       Der Berliner Forscher unterscheidet zwei Kategorien. In die erste gehören
       Schüler mit Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache und Verhalten (LSV),
       die klassischen Förderschüler, die er gar nicht mehr als solche
       diagnostizieren lassen würde. "Wir können davon ausgehen, dass dies etwa
       vier Prozent der Schüler betrifft". Alle Schulen sollten in dem Umfang eine
       "Basisversorgung" mit Sonderpädagogen bekommen. In der zweiten Kategorie
       sind Kinder mit einer körperlichen, geistigen, oder Seh- oder
       Hör-Behinderung für die es weiter eine individuelle Zuweisung von Förderung
       geben solle.
       
       Bremen plant die Förderzentren "sukzessive aufzulösen", wie
       Schulbehördensprecherin Karla Götz erklärt. "Der Bereich LSV soll komplett
       integriert werden", sagt sie. In den übrigen Kategorien sollen Eltern
       entscheiden, ob ihr Kind integriert unterrichtet wird. "Den Eltern wird
       dann ein Platz zugewiesen." Unterm Strich ist Bremen mit knapp 50 Prozent
       Inklusion Vorreiter.
       
       Ganz anders die Lage in Niedersachen. Hier sind nicht mal fünf Prozent der
       Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf der Regelschule. Die
       Förderschulen, so erklärte CDU-Politikerin Ursula Körtner noch im Januar,
       nähmen eine "nicht wegzudenkende Rolle ein." Die Grüne Ina Korter hatte
       beantragt, ab Schuljahr 2010/2011 die Hälfte der Förderschulen abzuschaffen
       und für die Fälle von körperlicher, geistiger oder Sinnes-Beeinträchtigung
       nach Bremer Vorbild ein Wahlrecht einzuführen. Die regierenden CDU und FPD
       versprachen, den Gesetzentwurf zu "prüfen". Im Mai wird es eine erste
       Anhörung geben. "Früher hätten sie so einen Antrag gleich abgelehnt", sagt
       Korter. Dass es diesmal anders ist, sei der UN-Konvention zu verdanken.
       
       6 Mar 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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