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       # taz.de -- Ausstellugnsmacher suchen Zeitzeugen: Die Suche nach vergessenen Rekorden
       
       > Zur Leichtathletik-WM bereiten Wissenschaftler eine Schau über drei
       > jüdische Leichtathletik-Stars der 20er-Jahre vor, die von Nazis aus den
       > Vereinen geworfen wurden. Die Recherche ist schwierig.
       
   IMG Bild: "Judenstern" - Zeichen sozialer Ausgrenzung, Demütigung und Diskriminierung von Juden im Deutschen Reich
       
       Für Gretel Bergmann hätte 1936 ein großartiges Jahr werden können: Vier
       Wochen vor der Olympiade stellte die Hochspringerin mit 1,60 Meter einen
       neuen deutschen Rekord auf und hätte bei den anstehenden Wettbewerben
       sicher zum Kreis der Medaillenaspirantinnen gezählt. Doch sie wurde aus dem
       Kader gestrichen, angeblich wegen Leistungsrückstand. Der wahre Grund: Die
       heute 95-Jährige, die unter dem Namen Lambert in den USA lebt, ist Jüdin.
       
       Dabei hatten die Nationalsozialisten die erfolgreiche Sportlerin zuvor noch
       unter Bedrohung ihrer Eltern aus dem englischen Exil zurückbeordert.
       Dorthin war Bergmann geflüchtet, nachdem ihr Verein sie aufgrund der
       jüdischen Herkunft rausgeworfen hatte. Mit der Berliner Olympiade wollten
       die Nazis Deutschland der ganzen Welt als freies Land fern jeglichen
       Antisemitismus präsentieren. Tatsächlich nahm für Deutschland dann aber mit
       der Fechterin Helene Mayer nur eine jüdische Sportlerin teil. An das
       Schicksal Gretel Bergmanns und die ähnlichen Lebensgeschichten der
       Leichtathletinnen Lilli Henoch und Martha Jacob erinnert eine Ausstellung
       anlässlich der im Sommer anstehenden Leichtathletikweltmeisterschaften in
       Berlin.
       
       "Zu Gretel Bergmann haben wir inzwischen Kontakt hergestellt", erzählt
       Berno Bahro, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich
       Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam. Im dortigen Institut
       für Sportwissenschaften bereiten Forscher und Studierende bereits seit
       einem Jahr die Schau "Vergessene Rekorde" vor. Am 24. Juni, sieben Wochen
       bevor der Startschuss für die WM in Berlin fällt, feiert die Ausstellung im
       Centrum Judaicum Eröffnung. Sie gehört zum offiziellen Kulturprogramm der
       Leichtathletikweltmeisterschaften.
       
       Noch bangen die Organisatoren der WM, ob sie denn genug Menschen für die
       Wettkämpfe begeistern und das Olympiastadion füllen können. "Da hätte man
       sich in den Zwanzigerjahren keine Gedanken machen müssen", sagt Bahro. "Die
       Leute waren damals richtiggehend Leichtathletik-krank, die Stadien bei
       Wettkämpfen randvoll." Auf den Rängen sei es dabei etwas anders als
       heutzutage zugegangen, ergänzt Bahros Kollegin Jutta Braun. "Sportfeste
       hatten damals eine Zuschauerkultur wie heute Theateraufführungen", erzählt
       die Historikerin. Mit Hut, Stock und in feinem Kleid sei man etwa ins
       Grunewaldstadion gepilgert, um die Wettbewerbe zu verfolgen.
       
       Etwas ganz Neues und groß im Kommen sei dabei die Frauenleichtathletik
       gewesen. Zwar hielt Mann den 800-Meter-Lauf für zu anstrengend für Frauen
       und nahm ihn nach 1928 aus dem olympischen Programm. "Man war entsetzt,
       dass sich die Zweit- und Drittplatzierten nach dem Rennen unkontrolliert
       ins Grün fallen ließen, wobei man nicht einmal wusste, ob vor Enttäuschung
       oder Erschöpfung", erzählt Bahro. Doch der zunehmenden Popularität
       weiblicher Leichtathletik-Stars konnte dieser Paternalismus nichts anhaben.
       "Die Emanzipationsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln sich auch
       im Sport wider", so der Geschichts- und Sportwissenschaftler.
       
       Die Stars der Zwanzigerjahre hießen Lilli Henoch, Gretel Bergmann oder
       Martha Jacob. Henoch etwa wurde zwischen 1922 und 1925 jedes Jahr deutsche
       Meisterin im Kugelstoßen und Diskuswerfen, zweimal mit der
       4-mal-100-Meter-Staffel und einmal im Weitsprung. 1926 lief sie mit der
       Staffel Weltrekord. Sogar auf dem Werbeplakat eines Schuhcremeherstellers
       wurde Henoch abgebildet - beim Diskusabwurf posierend. Doch je weiter die
       Nazifizierung Deutschlands voranschritt, desto mehr verschwanden jüdische
       SportlerInnen von der Bildfläche. "Wir haben diese drei Frauen ausgewählt,
       da sie damals herausragende Leistungen erbracht haben", sagt Jutta Braun.
       Aber sie ständen auch exemplarisch für die allgemeinen Entwicklungen im
       Sport Nazideutschlands.
       
       Schleichend und von unten sei die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden bis
       1936 gelaufen. "Von unten" heißt durch die Vereine. "Zwar wurden der Sport
       und seine Verbände damals zwangsweise gleichgeschaltet. In dieser Phase der
       Umstrukturierung gab es aber keine Anweisung, wie man mit Juden zu
       verfahren hätte", erklärt Bahro. "Sportvereine und teilweise die Verbände
       sind dann in vorauseilendem Gehorsam vorgeprescht und haben im Sinne der
       neuen Machthaber Arier-Paragrafen eingeführt." Am radikalsten seien dabei
       die Turner verfahren und sogar über die Nürnberger Rassengesetze
       hinausgegangen: "Akzeptiert wurden nur Mitglieder, bei denen alle
       Großeltern arisch waren", so Bahro.
       
       Aus ihren Vereinen ausgeschlossen wurden auch Lilli Henoch, Gretel Bergmann
       und Martha Jacob. Henoch war noch Anfang 1933 von ihrem Berliner Sportclub
       (BSC) geehrt worden, erzählt Bahro. Einen Monat später wurde sie
       ausgeschlossen. Sie arbeitete dann als Sportlehrerin an der jüdischen
       Schule in der Rykestraße im Prenzlauer Berg. 1942 wurde Lilli Henoch mit
       ihrer Mutter nach Riga deportiert und dort ermordet.
       
       Was Henoch angeht, so können die Ausstellungsmacher unter anderem auf
       Material von Martin-Heinz Ehlert, ehemaliger Hockey-Torwart und
       Vereinsmitglied beim BSC, zurückgreifen. Ehlert hatte schon einmal eine
       kleine Ausstellung zu Henochs Leben zusammengestellt, als die Sporthalle
       der Spreewald-Grundschule am Schöneberger Winterfeldtplatz nach der
       Ausnahmeathletin benannt wurde. In der Nähe, in der Treuchtlinger Straße,
       hatte Henoch gelebt. Ein Stolperstein erinnert dort an sie, ebenso wie ein
       jährliches Lilli-Henoch-Sportfest des BSC.
       
       So vorbildlich wie der BSC stellt sich nicht jeder Verein seiner
       Vergangenheit. "In vielen Sportchroniken, die Vereine gern zu Jubiläen
       anlegen, kommt der Nationalsozialismus recht dünne weg", sagt Bahro. Aus
       dem Sport-Club Charlottenburg (SCC) Berlin war unter anderem die
       Speerwerferin Martha Jacob im März 1933 ausgeschlossen worden. "Der SCC hat
       ein sehr problematisches Verhältnis zu seiner Geschichte, die lassen uns
       nicht ins Archiv rein." Dabei werde Geschichtsaufarbeitung, wie sie der
       Deutsche Fußball-Bund und einige Fußballbundesligisten seit einiger Zeit
       betreiben würden, immer mit einem positiven Medienecho belohnt. "Selbst
       wenn der Club tiefbraun war", so Bahro.
       
       Nicht einfach sei es auch, aussagekräftige Ausstellungsstücke aufzutreiben.
       "Kein Mensch hat damals ausgelatschte Sportschuhe oder ein Trikot
       aufbewahrt, nicht mal die Vereine selbst haben solche alten Devotionalien",
       bedauert Bahro. Doch durch den persönlichen Kontakt zu Martha Jacobs heute
       in den USA lebender Tochter können die Potsdamer immerhin einige originale
       Medaillen, Urkunden und Fotos aus dem privaten Nachlass der Speerwerferin
       zeigen. "Außerdem hatten wir im Jüdischen Museum die Möglichkeit, die
       Sammlung von Herbert Sonnenfeld zu sichten", erzählt Jutta Braun.
       Sonnenfeld dokumentierte als Pressefotograf zwischen 1933 und 1938
       zahlreiche Sportveranstaltungen jüdischer Einrichtungen. "Wir planen einen
       aus verschiedenen Interviews zusammengesetzten Film", fährt Braun fort.
       
       Als eine Quelle dient dabei das Videoarchiv von Steven Spielbergs Shoah
       Foundation. Zu dessen nahezu 52.000 Interviews mit Überlebenden und Zeugen
       des Völkermords an den Juden besitzt die Freie Universität seit zwei Jahren
       Zugang. Das FU-Institut für Judaistik hat mit einer Vorrecherche geholfen;
       Interviews mit Sportlern aus der Zeit der drei Protagonistinnen sollen
       deren Lebensgeschichten umrahmen.
       
       Filmmaterial durchforstet auch der Studierende Thorsten Preisz für die
       Ausstellung. Im Bundesarchiv und in diversen Landesarchiven sucht er nach
       Wochenschauen, die Hinweise auf Henoch, Jacob und Bergmann enthalten
       könnten. "Meist folgten da Berichte über Sportfeste mit Leichtathletik nach
       Motorradrennen und Beiträgen über irgendwelche Märsche", erzählt der
       Sportwissenschaftsstudent.
       
       Dass die Ausstellung ein Erfolg wird, glaubt er genauso wie Jutta Braun und
       Berno Bahro. Letztere beiden waren bereits an der Ausstellung "Doppelpässe
       - Wie die Deutschen die Mauer umspielten" beteiligt. Die war im
       Fußballweltmeisterschaftssommer 2006 im Prenzlauer-Berg-Museum zu sehen und
       beschäftigte sich mit durch den Fußball zustande gekommenen
       Ost-West-Kontakten während der Teilung. "Damals haben wir gemerkt, wie sehr
       Sportgeschichte die Öffentlichkeit anspricht", erinnert sich Braun an das
       Projekt, aus dem eine bis heute durch das Land ziehende Wanderausstellung
       geworden ist.
       
       Ob das Weltmeisterschaftsfieber in diesem August ähnlich grassiert wie
       2006, muss erst noch abgewartet werden. "Die Ausstellung jedenfalls wird
       mindestens so spannend wie damals", verspricht Braun.
       
       24 Feb 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Puschner
   DIR Sebastian Puschner
       
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