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       # taz.de -- Eröffnung der Art Basel: Auferstehung der Kunstkritik
       
       > Am Donnerstag eröffnet die Art Basel/Miami Beach. Die erste Kunstmesse
       > der Zukunft, wie sie gerühmt wurde, könnte auch schon die erste der
       > Vergangenheit sein.
       
   IMG Bild: Natur mal anders: Bild des Künstlers Michel Friemans.
       
       Garbage Collection nennt man einen Prozess, mit dem Rechner ihren Speicher
       reinigen. Dabei sieht eine kleine Routine die im Speicher gehaltenen Daten
       daraufhin durch, ob sie noch gebraucht werden. Findet sich niemand, der mit
       einem Datensatz noch etwas anzufangen weiß, so wird er gelöscht.
       
       Eine Routineuntersuchung dieser Art steht nun den Kunstsammlungen ins Haus.
       Die Revision wird die Sammler vor eine große Frage stellen. Was haben sie
       in den letzten Jahren am Kunstmarkt erworben? Dekorative Objekte oder Dinge
       von kultureller Bedeutung? Solange die Preise gestiegen sind, konnte sich
       der Wert eines Werks spekulativ bilden. Kunstobjekte aller Art werden recht
       wahllos nachgefragt, solange sie potenziell mit Gewinn weiterverkauft
       werden konnten. Aber die Lage ändert sich schlagartig, wenn die Nachfrage
       nachlässt. Dann wird sortiert. Denn nicht alle Preise fallen auf breiter
       Front, sondern einige stark und andere nicht.
       
       Man könnte die Frage unter dem modischen Begriff der Nachhaltigkeit
       abhandeln. Aber Kunst ist kein natürlich nachwachsendes Gut, sondern wird
       von Menschen gemacht. Der Begriff Bedeutung führt gleichfalls in die Irre,
       samt seiner Geschwister Substanz oder Qualität. Als könnte man ein
       verbindliches Maß der Güte heranziehen, um zwischen guten und schlechten
       Werken zu unterscheiden. Dazu ist der Markt viel zu erratisch und die Kunst
       viel zu klug, viel zu reflexiv. Längst haben Künstler selbst das
       vermeintlich Schlechte bewusst erprobt. Autoritäten und normative
       Wertbegriffe werden unterlaufen, sowie sie sich zeigen. Und gleichzeitig
       gibt es keine Position mehr, die sich noch eine Urteilsmacht oder eine
       plötzliche Übersicht anmaßen könnte.
       
       Was die Sammler interessieren dürfte, ist weniger Bedeutung als viel mehr
       dauerhafter Wert. Aber nicht die Urteile garantieren Dauer. Sondern
       einerseits der simple Fakt, dass etwas gespeichert und erhalten bleibt, und
       andererseits ein andauerndes lebendiges Interesse. Vieles liegt heute in
       der Macht der Sammler, aber gerade Letzteres nicht. Denn sie können eben
       nur sammeln. Dann müssen sie hoffen, das ihre Sammlungen von irgendwoher
       mit Sinn und Leben versehen werden. Denn genau darin unterscheidet sich
       eine geglückte Sammlung von einer Garbage Collection. Lebendiges Interesse
       schreibt sich als Zeiger fort in jene Zukunft, aus der die Werke ihre
       Dauerhaftigkeit gewinnen. Es handelt sich um eine Zukunft der Akteure, der
       Interessierten, eine Zukunft, in der Künstler sich auf die Werke unserer
       Gegenwart beziehen werden, in der Kuratoren oder Galeristen Positionen
       wiederentdecken und in der Kunsthistoriker sie in Geschichte umschreiben.
       Dass der Frage der Geschichtlichkeit wieder mehr Wert beigemessen wird,
       lässt sich an vielen Indizien ablesen. Zuletzt zeigten nicht nur
       Großausstellungen, sondern auch Galerien vermehrt nicht nur allerjüngste
       Kunst, sondern auch historische Positionen, Vorläufer und Anreger.
       
       Einiges spricht dafür, dass der Kunstkritik im Zug einer Revision eine
       wichtige Rolle zufallen könnte. Zuletzt wurde von allen Seiten ihr Ende
       ausgerufen. Kuratoren galten als die Agenten des Kommenden. Sie setzten
       Themen und Impulse. Kritiker dagegen hatten sich dem erratischen Willen des
       Marktes unterzuordnen. Ihre Unwichtigkeit durften sie bei Großausstellungen
       kompensieren, die ihnen regelmäßig Anlass zu Festen kollektiver Nörgelei
       boten. Die prekäre Bezahlung trägt ein Übriges zu ihrem Bedeutungsverlust
       bei. Wer vom Schreiben über Kunst leben wollte, verdingte sich zuletzt am
       besten als Katalog-Werbeschreiber oder gleich direkt bei einem
       erfolgreichen Künstler, um Gebrauchsanleitungen zur Hängung und Pflege
       seiner Werke zu verfassen.
       
       Warum also sollte ausgerechnet die Kunstkritik auferstehen? Weil sie jenen
       ersten Schritt geht, der einem Werk einen Zeiger aus seiner bloßen
       Gegenwart heraus gibt. Gerade weil der Text nachträglich kommt und dem Werk
       folgt, geht er ihm in die Zukunft voraus. Zu diesem Vorausgehen trägt auch
       der Umstand bei, dass Zeit heute nicht mehr im Modus der Moderne gemacht
       wird. Anders gemacht als noch zur Blütezeit der Moderne, schreitet die
       Kunstwelt heute nicht mehr in einer Abfolge von Avantgarden voran. Es gibt
       keinen Fortschritt mehr in der Kunst. Und es ist nicht einmal schlecht,
       dass diese hysterische Form der genuin modernen Zeitlichkeit passé ist. Der
       historisierende Impuls, der die Positionen der Avantgarden überhaupt erst
       möglich machte, ist versiegt. Verschiedenste Genres und Strömungen laufen
       parallel zueinander. Rückbezüge auf Vergangenes sind wahllos. Oft herrscht
       gar eine gewisse Vergesslichkeit, die leicht zu Wiederholungen führt.
       Kunstmessen lassen sich in ihrer orientierungslosen Vielfalt am besten mit
       den akademischen Salon-Ausstellungen des 19. Jahrhunderts vergleichen.
       Alles in allem erinnert vieles an eine späte Romantik, wieder aufgeführt
       unter den Bedingungen des transnationalen Kapitals.
       
       Was kann Kritik in dieser Lage unternehmen? Es gibt zwei unterschiedliche
       Sprechweisen der Kritik. Nennen wir sie das Festhalten und das
       Fortschreiben. Das Festhalten tritt dem Werk entgegen. Die festhaltende
       Kritik sucht ein Urteil. Sie hält eine Position in der Bewegung fest. Das
       Fortschreiben macht das Gegenteil. Es geht vom Werk aus, um es in Bewegung
       zu setzen und von ihm aus einen Gedanken zu entwickeln. Benjamin hat einen
       vergleichbaren Gegensatz in seiner Untersuchung über die Kunstkritik der
       Romantik gefunden. Der romantische Kritiker setzte sich deutlich vom
       Kunstrichter ab, der urteilen will. Damals war, so Benjamin, Reflexion der
       entscheidende Begriff, sowohl in der Kunst als auch im Schreiben darüber.
       Dem Kritiker fiel die Aufgabe zu, mit dem Werk zu arbeiten, es schreibend
       zu vollenden oder weiterzudenken. In diesem Sinn konnte Kritik
       fragmentarisch, abwegig, verärgert, essayistisch und subjektiv sein. Nur
       distanziert zu beschreiben oder zu urteilen, das konnte sie sich sparen.
       
       Doch heute scheint gerade die fortschreibende Kritik dem Risiko
       ausgeliefert zu sein, dem Markt hinterherzuschreiben. Gibt sie doch den
       Anspruch auf, dem Werk "objektiv" gegenüberzutreten. Aber gerade diese
       vermeintlich Objektivität hat ihren Anspruch auf interesselose Erkenntnis
       letztlich nicht erfüllt. In Letzter trifft man auf zwei verschiedene Arten
       von Kritik. Auf der einen Seiten steht der Diskurs der Spezialisten und der
       Insider, wie er in den intellektuelleren Kunstzeitschriften geführt wird.
       Wer dort schreibt, ist in der Regel Teil des Betriebs, allzu oft in ein
       Geflecht von Akademien, Galerien, Museen, Sammlern und deren Interessen
       eingebunden. Man pflegt einen Amtsblatt-Stil, um Material für künftige
       Kunsthistoriker zu liefern. Leider ändert die vermeintliche Objektivität
       des akademischen Diskurses wenig an den Interessen der Beteiligten. Sie
       kaschiert sie nur. Dagegen verfällt die Kritik, die sich an ein größeres
       Publikum richtet, oft der Kunstwelt als sozialem Ereignis. Sie hechelt dem
       letzten heißen Scheiß hinterher, versammelt die Promis der Szene zu
       Gruppenporträts und beschreibt Betrieb als Boulevard.
       
       Eine Kritik, die das Werk fortschreibt, setzt nicht bei der Person, sondern
       beim Werk ein. Sie versucht, eine Spur nach vorne zu legen, die vom Werk
       aus weiterführt, wenn die Ausstellung längst vorbei ist. Die Kritik
       operiert in der derselben Logik der Verknüpfung, die auch das Internet
       prägt. Indem sie das Werk fortschreibt, gibt sie ihm Relevanz. Und Relevanz
       ist etwas anderes als ein Urteil. An die Stelle eines autoritären Anspruchs
       auf Bedeutung tritt das Spiel der Stimmen und die Summe der Verknüpfungen.
       Ob gedruckte Zeitungen noch der Ort dieser Kunstkritik sein können oder ob
       sie sich vornehmlich im Internet ereignen wird, bleibt offen. In jedem Fall
       dürfte es aber dazu kommen, dass die bevorstehende Revision der Sammlungen
       der Kunstkritik zu neuer Bedeutung verhilft. Denn sie kann der kleinen
       Routine der Garbage Collection etwas entgegensetzen.
       
       3 Dec 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Heidenreich
       
       ## TAGS
       
   DIR zeitgenössische Kunst
       
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