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       # taz.de -- Unbekannter Gerhard Richter: Fiktive Modelle
       
       > Gerhard Richter ist einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart.
       > Köln und Leverkusen zeigt nun seine weniger beachteten Werke: Übermalte
       > Fotografien und abstrakte Bilder.
       
   IMG Bild: Gerhard Richter in Köln: Zufall und spontaner Einfall beim Malen.
       
       Gerhard Richter kann auch lächeln. Der auf Fotografien für gewöhnlich
       mürrisch wirkende Maler nimmt den Trubel um seine Person eher amüsiert hin.
       Zwar freut den Künstler die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wird,
       doch "man kommt nicht zum Malen". Mehr Gelassenheit insgesamt wäre
       wünschenswert.
       
       Denn der anhaltende Hype verstellt den Blick auf das Wesentliche:
       Angesichts der Flut an Meldungen über neue Auktionsrekorde von Richters
       Werken und aktuelle Rankingplatzierungen gerät die künstlerische Leistung
       des Künstlers mitunter zur Nebensache. Gefeiert wird eine Marke, nicht die
       Kunst. Das ist nichts Neues, stimmt aber doch immer wieder ärgerlich.
       
       Seit dem vergangenen Wochenende sind zwei exzellente Ausstellungen zu
       sehen, die sich nicht auf die Vielseitigkeit des Künstlers zu kaprizieren
       versuchen. Stattdessen konzentrieren sich die beiden Schauen auf bislang
       eher wenig beachtete Werkkomplexe. Im Leverkusener Museum Morsbroich sind
       es die übermalten Fotografien, im Kölner Museum Ludwig die abstrakten
       Bilder. Letztere machen inzwischen drei Viertel von Gerhard Richters
       Gesamtwerk aus.
       
       Ausgewählt wurden knapp 40 großformatige Arbeiten aus den Jahren 1986 bis
       2008, die zum Teil noch nie in Deutschland ausgestellt wurden. Sie werden
       nun in unmittelbarer Nähe des Doms gezeigt, wo Richters abstraktes
       Kirchenfenster vor nicht allzu langer Zeit für Diskussionen sorgte.
       Obgleich die Bilder, anders als etwa die abstrakte Kunst der
       Nachkriegszeit, nicht auf emotionale Qualität abzielen, vermitteln gerade
       die Werkreihen eine innere Stimmigkeit, die sie als zusammengehörig
       ausweist.
       
       Eröffnet wird die Schau mit der Serie "Wald" (2005), die als einzige
       gegenständlich anmutet und daher trefflich geeignet ist, einen Zugang zu
       den sperrigen Bildern zu ermöglichen. Breite, mit einem Quast gezogene
       graue Streifen suggerieren vage mehrere Baumstämme. Unter dunklen
       Farbschichten und Schleiern schimmern gelbe, grüne und rote Flächen.
       
       Tritt der Betrachter sehr nahe an ein gegenständliches Bild heran, lösen
       sich die Pinselstriche in abstrakten Spuren auf. Bei den abstrakten Bildern
       Richters ist der Effekt umgekehrt. Zwischen den Farbschichten tut sich ein
       Mikrokosmos differenter Malspuren auf. Vernetzungen und Verschleifungen,
       Krater und Kratzer, Fissuren und Strukturen bilden eine so heterogene wie
       antihierarchische Entdeckungslandschaft. Eingeklebte Pinselhaare inklusive.
       
       Erklärtermaßen diente Richter keine Fotografie als Vorlage oder Ausgang.
       Dennoch scheint es, als hätte der Künstler dort angesetzt, womit er bei den
       Landschaftsbildern endete, mit einer ikonoklastischen Geste. Indes
       gestaltet sich der gesamte Malprozess als Überwindung der tradierten
       Abstraktionspraxis. Mit Pinseln und Spachteln trägt Richter zunächst
       Ölfarbe auf die Leinwand auf. Ein anderes Werkzeug ist der Rakel, ein
       Holzbrett, mit dem überschüssige Farbe abgenommen oder verwischt wird.
       Zufall führt ebenso Hand wie spontaner Einfall. So bringt jede weitere
       Bearbeitung neue Konstellationen von Flächen und Strukturen hervor, die
       einander in vielen Schichten überlagern, überdecken oder vernetzen.
       
       Bis zur Fertigstellung des Bildes "Rot", das leider nicht ausgestellt ist,
       bedurfte es insgesamt 33 Vorgänge. Dabei handelt es sich nicht um
       Ergänzungen und Verfeinerungen, sondern um die Neuschaffung auf der
       Grundlage des jeweils Vorhandenen. Eine fotografische Dokumentation aller
       einzelnen Schritte, die im Katalog abgebildet ist, gibt eine Ahnung von der
       Komplexität der Entstehung. Der Anfang falle ihm leicht, gesteht Richter,
       wobei man eine fixe Idee vermeiden solle. "Doch man wird immer unfreier,
       bis das Bild fertig ist." Ein Außenstehender mag jeden Zustand für sich als
       originär nehmen. Zum Schluss liegen 32 Bilder unter dem endgültigen "Rot"
       verborgen.
       
       Während die Bezeichnung hier in der dominierenden Farbe begründet liegt,
       lassen andere Titel nur bedingt Rückschluss auf das Abgebildete zu. Die
       Serien "Cage" und "Bach" etwa entstanden, als Richter Musik der beiden
       Komponisten hörte. Dennoch wäre es vermessen, eine Analogie zur Klangwelt
       von Bach und Cage zu bilden, außer vielleicht in der schrittweisen
       Hervorbringung des Werkes, wie Kurator Ulrich Wilmes schreibt. "Titel sind
       von Vorteil für den Betrachter", erläutert Richter, "so kann man sich
       Bilder besser merken als durch Nummern." Wie bei den Bildern der Serie
       "Wald" verbindet auch "Bach" und "Cage" eine harmonisch anmutende Farb- und
       Oberflächenstruktur.
       
       Frühe Einzelwerke wie "Courbet" (1986) oder "Schräge" (1988) fordern
       ungleich mehr Orientierungsvermögen. Alle Bildelemente scheinen in wilder
       Bewegung. Flächen stoßen aneinander, bilden Wirbel und Grate, zerfasern und
       benetzen darunter liegende Strukturen. Farbwellen durchpflügen die Bilder
       und werden selbst wiederum von schlangenartigen Streifen und aufgerissenen
       Verwischungen bedeckt. Die Erfahrung einer transzendentalen Realität im
       vermeintlichen Chaos mag Richter für den Betrachter nicht ausschließen:
       "Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit
       veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren
       Existenz wir aber schließen können."
       
       Nicht recht ins Konzept der Ausstellung passt eine 100-teilige Arbeit von
       Hinterglasbildern, die wie ein unverhofftes Anhängsel im Kabinett des
       Seitenflügels präsentiert werden. Weder die Größe (30 x 40 cm) noch die
       Technik sind mit den übrigen Arbeiten zu vergleichen. Richter hat
       verschiedenfarbige, dünnflüssige Lacke auf eine Platte gegossen, dekorativ
       ineinanderlaufen lassen und mit dem Bildträger abgenommen.
       
       Umso mehr begeistert die Anwendung von Lack oder wahlweise Ölfarbe auf den
       übermalten Fotografien, die in Leverkusen zu sehen sind. Denn die Bilder im
       Zwischenreich von Abstraktion und Gegenständlichkeit charakterisiert eine
       überraschende Art von Wärme und Humor, die man bei Richters anderen Werken
       vergeblich sucht. In nahezu jeder Arbeit vermittelt sich der Spaß des
       Künstlers an der Bildfindung. Die Fotografie eines schneebedeckten Hügels,
       dessen Kamm mit einer Reihe von Tannen bestanden ist, überzog Richter mit
       einem feinen Netz roter Farbkleckse.
       
       Die Pünktchen scheinen wie Schneeflocken über der Landschaft zu tanzen.
       Möglicherweise handelt es sich um verzauberten Schnee, überlegt Siri
       Hustvedt in ihrem Katalogbeitrag. Was für die Schriftstellerin zählt, ist
       allein die "optische Poesie". Damit beschreibt sie sehr gut den Reiz und
       die Qualität der übermalten Fotografien, die neben dem Sehvergnügen in der
       Verführung zur Assoziation liegen. Sammler erfinden gar Namen für die
       titellosen Bilder, auf denen Richter nur den Entstehungstag vermerkte. So
       zeigt das "Walbild" nach Ansicht seiner Besitzer einen Belugawal, gebildet
       aus weißen und schwarzen Lacktupfern, die sich von rechts in das Bild
       schieben.
       
       Als Grundlage für die übermalten Fotografien dienen Richter Abfallprodukte.
       Etwa Farbreste, die auf dem Rakel zurückbleiben. Richter legt das Foto auf
       die überschüssige Farbe oder er zieht es über die Kante des Werkzeugs. Je
       nach Druck und Bewegungsrichtung entstehen Verwischungen, Verästelungen,
       Schlieren, biomorphe Formen und wellenähnliche Verläufe. Einen Teil der
       Bilder hat Richter auch mit Farbtupfern und Klecksen besprenkelt. Anders
       als bei den abstrakten Bildern muss der erste Versuch glücken, sonst ist
       der Bildträger unbrauchbar. Da dies nicht oft gelingt, wandert mehr als die
       Hälfte der Produktion in den Abfall.
       
       Bei den Fotografien handelt es sich um handelsübliche Laborabzüge (10 x 15
       cm) von privaten Knipserbildern ohne künstlerischen Anspruch, von Gerhard
       Richter aufgenommen im häuslichen Alltag und auf Reisen. Sie zeigen den
       kleinen Sohn und die Tochter beim Spiel im Haus und im Garten, die Familie
       an der See und im Gebirge. Obschon private Momente gezeigt werden, gewähren
       die Bilder keinen indiskreten Einblick. Mögen die Familienmitglieder auch
       identifizierbar sein, so sind sie für den Betrachter doch nicht mehr als
       bloß Stellvertreterfiguren.
       
       Der überwiegende Teil der rund 500 übermalten Fotografien wurde noch nie
       öffentlich ausgestellt. Lediglich drei Serien des Werkkomplexes sind
       bislang publiziert und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
       Darunter "Firenze" und die Übermalungen von Seiten der FAZ mit dem Titel
       "War Cuts". Anfangs verschenkte Gerhard Richter die Bilder an Freunde und
       Bekannte, sodass die Arbeiten weder in Galerien noch auf Ausstellungen zu
       sehen waren. Ein anderer Teil fand Eingang in Richters riesige
       Materialsammlung "Atlas", bevor sich eine eigenständige Gruppe
       herausentwickelte. Der Präsentationsrahmen im Museum Morsbroich ist ein
       Glücksgriff. Die parkettierten, schlichten Räume des in seiner Anlage
       barocken Stadtschlösschens eignen sich perfekt für die kleinen Formate.
       
       Beide Ausstellungen zeigen Wege aus dem Hype. Trotzdem konnten die Macher
       im Museum Ludwig nicht widerstehen, den Köln-Bonus auszuspielen. In der
       Wahlheimat des gebürtigen Dresdners könne man die Kenntnis von der Person
       Richter und seiner Arbeit voraussetzen, nur wenige Werke seien in dieser
       Stadt so bekannt wie das seinige. Indes mochte sich der Künstler nicht
       vereinnahmen lassen. Den Ausschlag für seinen Wohnsitz gab, so Richter,
       "nur die schöne Etage, die ich da kaufen konnte". Sprachs und lächelte.
       
       21 Oct 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Weckesser
       
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