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       # taz.de -- Die Rückkehr des Jiddischen: "Shlofn in Goyles"
       
       > Das Jiddische erlebt in New York eine Rückkehr - immer mehr wollen die
       > Sprache lernen. Die neuen Jiddischisten sind aber keine Orthodoxen,
       > sondern jung, modern und vor allem kritisch.
       
   IMG Bild: New Yorker Juden in einem koscheren Supermarkt
       
       "Its a Schande!" Deutsche Worte mitten in Manhattan. Plötzlich verändert
       sich der Blick vom Hochhausdach. Gerade Straßenraster einer amerikanischen
       neuen Welt verschwimmen zu alteuropäischem Wegewirrwarr. Jiddisch. Aber auf
       dem jüdischen Zentrum JCC sind nirgends orthodoxe Schwarzmäntel zu sehen.
       Man trägt Jeans oder Rock zur jiddisch-persischen Theatershow der
       Avantgarde-Regisseurin Jenny Romaine. Bis auf die Besetzung. Sich aus dem
       Palmenkostüm pellend, erklärt Daniel Levitsky: "Wir verwenden es
       brockenweise. Zum Beispiel "Wos macht ihr?" Die Antwort wäre "Shlofn in
       Goyles". Dann sprechen wir wieder Englisch."
       
       Jiddisch, der scheinbar regionslose deutsche Dialekt, findet sich in New
       York. Tausende Kilometer von seinem Entstehungsort entfernt, 60 Jahre
       nachdem die Nähe zwischen beiden Sprachen ausgelöscht wurde. Ein Relaunch,
       gemessen an Jiddischsprachlern wie Daniel. Sie sind jung und nicht
       religiös. Es geht ihnen nicht um Klezmer-Musik wie in den 90er-Jahren.
       Ebenso wenig lässt sich der Trend in ansteigenden Teilnehmerzahlen bei
       Jiddisch-Sprachkursen beschreiben. Einzig das Publikum hat gewechselt. Auf
       den Bänken sitzen zunehmend alternative Menschen. Sie lesen kritische
       Webseiten wie "Orthodox Anarchist" und hören jiddisch-politische Lieder von
       Daniel Kahn. So landen sie auf den angesagtesten Theatershows der New
       Yorker Off-Szene und verwirren deutsche Ohren. Aber von vorn: "Shlofn"
       versteht man ja - aber was bedeutet "Goyles"?
       
       "Das heißt Diaspora oder Abwesenheit". Es heißt aber auch Distanz,
       Zwiespältigkeit oder Sehnsucht. Daniel könnte stundenlang so
       philosophieren. Ähnlich dem Vokabular des so unjüdischen Philosophen Martin
       Heidegger geht es Daniel um die Spannung zwischen hier und dort, damals und
       heute. "Ich bin ein Durchheit-Diasporist." Seine Philosophie über ein Leben
       ohne Heimatland bringt ihn zur Kritik an Nationalstaaten und auf
       globalisierte Identitäten. Die tausendjährige jüdische Diaspora wird zum
       Zukunftsmodell. Also vernetzt er sich global und gibt seinen jiddischen
       Namen "Rozele" in der E-Mail-Adresse an. Daniel ist so zeitgenössisch und
       urban wie ein Mensch in seinem Alter nur sein kann. Lange, lockige Haare
       zum Zopf gebunden, blaue Augen hinter Brillengläsern.
       
       Zwei Tage nach der Theatershow trägt er Lederweste. Das Stammcafé des
       Einunddreißigjährigen ist ein rotes Backsteinhaus. Angelehnt an einen der
       riesigen Pfeiler der Brooklyn-Brücke, fügt es sich in die industrielle
       Architektur. Seine Wohngegend. Als Puppenspieler mischt er jedoch oft
       ländliche jiddische und persische Elemente. "Die beiden Kulturen haben viel
       gemeinsam, das Verspielte, die Ornamente?" Schon zu Collegezeiten
       provozierte er gern mit dem Remix der scheinbar gegensätzlichen
       Traditionen. Daniel sagt, auch die Mischung von Kultur mit Politik hat
       Tradition. Der Großvater des in Boston geborenen Juden der dritten
       Generation kam aus Polen. Lange Seder-Abendessen und ein schwerer
       jiddischer Akzent haben sich seinem Gedächtnis eingeprägt. Schon in den
       50ern und 60ern war Daniels Familienvorbild als Mitglied der
       Kommunistischen Partei aktiv. Und natürlich war der Großvater beim "Bund".
       Die jiddische Arbeiterbewegung, 1897 in Polen und Russland gegründet, war
       gegen Zionismus und für Sozialismus. Nach den Stalinschen "Säuberungen"
       wurde New York zu einem ihrer Zentren. Sie pflegten jiddische Kultur mitten
       in den USA. Zum Trotz der misstrauischen Blicke ihrer kapitalistischen
       Zeitgenossen. Aber das ist eine andere Geschichte.
       
       Oben auf dem Dach in Manhattan, fast ein Jahrhundert später, ist Jiddisch
       wieder politisch. Emily, klein, rundlich, rothaarig, steckt noch im Kostüm
       der jiddisch-persischen Show. Diesen Sommer besuchte sie einen
       Jiddisch-Kurs in Litauen. Sie radebrecht "Ick wohn in Neu York!" Lautes
       Lachen. Die 29-Jährige nimmt den Zylinder ab und blickt auf die Stadt unter
       sich. Sie ist selbst neu in New York. Der Schritt aus Philadelphia hierher
       ist für sie ein Schritt in das Zentrum politischer Diskurse: "Wir sind eine
       Generation, die zu Zeiten der Intifada aufwuchs."
       
       Emily nennt es ein langes "politisches Lernen". Für ihre Eltern,
       Rabbi-Nachfahren, hatte Israel noch etwas Verheißungsvolles. Aber im Kampf
       gegen Rassismus änderte sich Emilys Denken. Vor zehn Jahren für Mumia
       Abu-Jamal, den in Philadelphia inhaftierten schwarzen Journalisten. Heute
       will sie nicht mit der arabischen Welt im Konflikt sein, nur weil ihre
       jüdische Identität sie mit Israel verbindet. "Shlofn in Goyles" ist ihre
       Parole.
       
       Zu Zeiten von Daniels Großvater bedeutete das "Warten auf den Messias", der
       den Juden ihr Land bringt. Aber Leute wie Daniel oder Emily warten nicht.
       Sie verwenden die jiddische Phrase im Sinne von Chillen oder Abhängen in
       der Diaspora. Und dann grinsen sie breit. Gemessen an dem Alltag dieser
       Menschen ist "Shlofn" reine Ironie: "Besonders in den letzten Jahren
       bedeutete das, aktiv sein gegen antimuslimische Fremdenfeindlichkeit."
       Daniel und seinesgleichen findet man auf Demonstrationen gegen den
       Irakkrieg, bei Vereinen wie JATO (Jews against the occupation) oder JFREG
       (Jews for Racial and Economic Justice). Ihr "Durchheit"-Bekenntnis zur
       Diaspora entzieht dem Nahostkonflikt sprichwörtlich den Boden.
       
       Also wird auf dem New Yorker Dach gejiddischt. Und gegrinst, wenn Deutsche
       plötzlich den Insiderslang verstehen. Daniel sagt fröhlich in die trunkene
       Nacht: "Praktisch, wie man damit eine europäische Sprache verstehen lernt!"
       Nur komisch, wie dann die Nähe zu Deutschland, die Vergangenheit, ja auch
       der Holocaust ins Bewusstsein rückt. Aber: "Darum geht es nicht", sagt
       Emily. "Dieser Aspekt spielt keine Rolle", ergänzt Daniel.
       
       Antworten auf diese Fragen haben wenige. "DJ" Waletzky ist, lesbar an
       seinen Namensinitialen, eigentlich "David, Judah", auch professionell in
       diesen Sphären umtriebig. Zudem ist er Journalist, Filmemacher, Redakteur,
       seine Webseite lässt folgern: Multitalent. Äußerlich erscheint David wie
       die neuen Jiddischisten. Er trägt Jeans, bedrucktes T-Shirt, darauf die
       Buchstaben "PRO-SEMITE". Zum Druck, über seine Webseite bestellbar, erzählt
       er: "Auf dem College, da fragte mich mal der Vertreter der
       palästinensischen Gruppe ,Was meinst du zu Israel?' Er war gerade im Streit
       mit einem von der jüdischen Organisation "Hillel". Ich sage daraufhin: ,Ich
       bin prosemitisch.' Das ist meine Position: proarabisch, pro Israel,
       prosemitisch." Logisch. Dabei scheint diese sprachliche Verwandtschaft zu
       Zeiten des Nahostkonflikts absurd.
       
       David spielt gern mit kulturellen Überschneidungen bei schwierigen
       Sprachgemischen. Die ist der 28-Jährige schon von Kindesbeinen gewohnt. Bis
       er mit fünf Jahren in die Schule kam, sprach er, mitten in New Yorks
       Zentrum lebend, kein Englisch. Nur Jiddisch. Fängt er an zu reden, klingt
       sein "r" kurz und lautlos wie im Deutschen, das "ch", trocken und hart, die
       Sprachmelodie plätschert weich und irgendwie altbekannt dahin. "Mein Tate
       (Vater) ist geborn in Brooklyn. Meine Eltern haben getroffen in
       Folksbiene?" Mit der 1915 in New York gegründeten Freien Jiddischen
       Volksbühne flimmert wieder die Welt der Bundisten auf. Egal, ob
       kommunistische Jiddischsprachler oder die gleichnamige Berliner
       Theaterbewegung, links waren sie beide.
       
       ## "Wir müssen uns versöhnen"
       
       Vor vier Jahren wollte David nach Deutschland fahren. Da wurde es seiner
       Mutter zu viel mit der jiddisch-deutschen Nähe. "Sie ist in einem DP-Camp
       geboren worden." Eine Abkürzung für Displaced Persons. So hießen die Camps,
       in denen europaweit die Befreiten aus den Konzentrationslagern
       untergebracht wurden. "Der Holocaust ist immer präsent in meiner Familie.
       Es ist wie Aufwachsen mit Toten in einem Raum." Während er spricht,
       verstärkt sich der melancholische Anblick seiner dunklen Augen, das dichte
       schwarze Haar, der Bartansatz im jungen Gesicht. Äußeres und Inneres
       pendelt zwischen hier und dort, Gegenwart und Vergangenheit. Und doch ist
       es nicht "Durchheit" im heideggerianischen Abstraktionismus. Die Position
       des Nachfahren der säkularen, "weltlach" Jiddischfront ist sehr klar: "Wenn
       wir uns nicht versöhnen können, wenn Juden nicht nach Deutschland können,
       wenn die Jiddisch-Kultur aufgegeben wird, dann hat Hitler gewonnen."
       
       David war in Berlin. Obwohl ihn seine Mutter fast enterbt hätte. "Dort
       sagte ich immer, dass ich Deutsch spreche. Einfach die Verben ans Ende des
       Satzes packen, wie bei: Meine Bobe war geborn in Frankfurt."
       
       Die Nähe zwischen Jiddisch und Deutsch ist offensichtlich. Ihre brutale
       Trennung durch den Holocaust auch. Vielleicht haben Daniel und Emily ja
       recht. Erst mal mit Jiddisch den Nahostkonflikt lösen. Oder Zukunftsmodelle
       für globalisierte Identitäten schaffen. Die Ziele bloß nicht niedrig
       stecken. Araber, Deutsche, Muslime, Christen, überall Abspaltungen und
       Konflikte. Emily sieht jetzt auch das Wegewirrwarr vom Manhattandach aus.
       Sie grinst, weil eine der abgedroschensten jiddischen Phrasen mal wieder
       angebracht erscheint: "Is schwer zu sejn a Jid."
       
       14 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Misselwitz
       
       ## TAGS
       
   DIR Juden
       
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       Berlinerin.