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       # taz.de -- Le Monde Diplomatique: Spiel der Großen im Kaukasus
       
       > Im Konflikt um Südossetien trumpft Russland als Ordnungsmacht auf. Dabei
       > könnte die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens die gesamte
       > Kaukasusregion destabilisieren.
       
   IMG Bild: Russischer Checkpoint in Georgien.
       
       Osseten wie Georgier sind mehrheitlich orthodoxe Christen und unterhalten
       schon deshalb von jeher enge Beziehungen. Zu Zeiten der alten Sowjetunion
       gab es entsprechend in Südossetien viele gemischte Ehen. Doch immer, wenn
       der auf Integration und Zentralismus versessene georgische Nationalismus an
       den großen historischen Wendepunkten voll auf Touren kam, steigerte sich
       die gewöhnliche Rivalität zwischen den beiden Volksgruppen zu blutigen
       Konflikten.
       
       Im Lauf dieser Geschichte hat die georgische Armee die südossetische
       Hauptstadt Zchinwali zweimal brutal überfallen: zuerst 1920, während der
       ersten unabhängigen Republik Georgien, und erneut 1991 und 1992, unter den
       Präsidenten Swiad Gamsachurdia und Eduard Schewardnadse.
       
       Beide Invasionen forderten zahlreiche Todesopfer und tausende Menschen
       mussten in das heutige Nordossetien und nach Russland flüchten. Aber in
       beiden Fällen war es zweifellos so, dass die Russen das nationalistische
       Feuer ausnutzten - oder sogar schürten -, um damit die Regierung in Tiflis
       zu schwächen. So unterstützte Moskau die Unabhängigkeitsbewegung in
       Südossetien - genauso wie die in Abchasien - im Bemühen, die Souveränität
       Georgiens über ihr Gebiet infrage zu stellen.
       
       Das Waffenstillstandsabkommen von Dagomys vom Juni 1992 schien zunächst die
       Chancen auf eine politische Lösung des Konflikts offenzuhalten. Südossetien
       konnte sich der Kontrolle durch Tiflis entziehen, wobei allerdings eine
       ganze Reihe georgischer Siedlungen auf südossetischem Territorium
       verblieben. Eine Friedenstruppe unter Aufsicht einer gemischten
       Kontrollkommission aus Russen, Süd- und Nordosseten und Georgiern sollte
       den Waffenstillstand sichern. Doch die alten Spannungen lebten sehr rasch
       wieder auf.
       
       In Ergneti, einem Vorort von Zchinwali, entstand der größte Umschlagplatz
       für Schmuggelware im südlichen Kaukasus. Dieser quasi rechtsfreie
       Schwarzmarkt liegt strategisch ideal an der Transkaukasischen Fernstraße,
       die durch den Roki-Tunnel führend Russland und Georgien (beziehungsweise
       Nord- und Südossetien) miteinander verbindet. Auf dieser Route wurden vor
       allem russische und türkische Waren verschoben, wobei die Hauptprofiteure
       die korrupten ossetischen und georgischen Eliten waren.
       
       Präsident und Gegenpräsident 
       
       Moskau bot den Bewohnern der abtrünnigen Region bald russische Pässe an,
       womit eine völkerrechtlich einmalige Situation entstand. Tiflis wiederum
       protestierte gegen die Zusammensetzung der Kommission, die den Status der
       Region aushandeln sollte. Die hielt sie für unausgewogen, weil von den vier
       beteiligten Parteien - Russland, Georgien, Südossetien und Nordossetien -
       drei die Sache Ossetiens unterstützten.
       
       Präsident Michail Saakaschwili erklärte im Januar 2004, unmittelbar nach
       Regierungsantritt, seinen entschiedenen Willen, die beiden abtrünnigen
       Regionen Ossetien und Abchasien wieder voll unter die Souveränität Georgien
       zu bringen. Bestärkt wurde er in seiner Entschlossenheit durch die rasche
       Wiedereingliederung des ebenfalls abtrünnigen Adscharien im Süden, nachdem
       er Anfang Mai 2004 den lokalen Potentaten Aslan Abaschidse zum Rücktritt
       gezwungen hatte, ohne dass Moskau dagegen protestiert hätte.
       
       Die Konflikte um Abchasien und Südossetien blieben dennoch zunächst
       eingefroren, obwohl Georgien zahlreiche wirtschaftliche und politische
       Druckmittel einsetzte: Der Markt von Ergneti wurde verschärft kontrolliert
       und am Ende geschlossen, georgische Dörfer in Südossetien bekamen
       Finanzhilfe, im November 2006 wurde gegen Eduard Kokoity, den prorussischen
       Separatistenpräsidenten von Südossetien, der progeorgische "Gegenpräsident"
       Dmitri Sanakojew installiert.
       
       Zugleich forderte Tiflis immer dringlicher eine Intervention Washingtons
       und Brüssels. Insbesondere schlug die georgische Regierung vor, die
       russischen Blauhelme durch Friedenstruppen von OSZE, Nato oder UNO
       abzulösen. Zudem schloss sie eine militärische Lösung, auf die einige
       georgische Politiker drängten, trotz der Warnungen des Westens nie aus.
       
       Mithilfe der USA und der Türkei konnte die georgische Armee rasch
       modernisiert und militärtechnisch den Nato-Standards angepasst werden.
       Einige Beobachter äußerten sich besorgt über die modernen neuen
       Militärbasen in Senaki und Gori, in unmittelbarer Nähe der beiden
       abtrünnigen Regionen. 2006 sorgte EU-Außenkommissarin Benita
       Ferrero-Waldner für Aufregung, als sie ihre Bedenken über die
       unverhältnismäßig hohen Militärausgaben der drei südkaukasischen Staaten
       (Armenien, Aserbaidschan, Georgien) und die Gefahr einer entsprechenden
       Eskalation der lokalen Konflikte äußerte.
       
       Damit artikulierte sie die Besorgnis zahlreicher europäischer Regierungen
       angesichts der steigenden Spannungen.
       
       In der letzten Phase vor dem offenen Ausbruch des Konflikts häuften sich
       die Zwischenfälle: Im Januar 2008 kam es in Georgien zu heftigen Protesten
       gegen Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen; in Südossetien
       beschossen sich georgische und ossetische Dörfer; im Juli geriet der
       Autokonvoi des "Präsidenten" Sanakojew unter Feuer. Doch der massive
       Angriff auf Zchinwali am Abend des 8. August (mit zahlreichen Opfern unter
       der Zivilbevölkerung) und der Überfall auf die russischen Blauhelme waren
       von ganz anderer Qualität. Der georgische Präsident hatte die Unterstützung
       durch seinen Verbündeten USA überschätzt und auf einen Blitzsieg über die
       kleine Provinzhauptstadt gesetzt. Er glaubte die Souveränität Georgiens
       über Südossetien gewaltsam wiederherstellen zu können, ohne dass die Russen
       intervenieren würden. Dieses Kalkül ging bekanntlich nicht auf.
       
       Was die Regierung in Moskau betrifft, so hat sie die territoriale
       Integrität Georgiens zwar immer anerkannt (die GUS-Verträge erlauben keinen
       Zweifel an der Unverletzlichkeit der alten Grenzverläufe aus Sowjetzeiten),
       sich zugleich aber stets in die lokalen Konflikte der Region eingemischt,
       um Druck auszuüben und Tiflis von seinem Pro-Nato-Kurs abzubringen. Diese
       völlig kontraproduktive Strategie führte zu gegenseitigen Schuldzuweisungen
       und der schrittweisen Verschlechterung der Beziehung zwischen beiden
       Ländern.
       
       Der Kreml drohte abwechselnd mit einer Militärintervention an der
       georgisch-tschetschenischen Grenze, Luftangriffen oder einer Aufhebung der
       Blockade Abchasiens. Jede dieser Drohungen beschleunigte nur die Annäherung
       zwischen Tiflis und Washington. Auf Drängen der USA gründeten 1997 die vier
       GUS-Staaten Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien den
       Guam-Staatenbund. 2002 schickten die USA ihre ersten Militärberater nach
       Georgien, das sich gerade in dieser Zeit zum wichtigsten Transitland für
       den Transport fossiler Brennstoffe vom Kaspischen Meer in Richtung Westen
       entwickelte.
       
       Die russisch-georgische Krise spitzte sich vollends zu, als Saakaschwili im
       September 2006 vier russische Offiziere medienwirksam verhaften ließ.
       Moskau reagierte mit einer Anti-Georgien-Kampagne und einem Einfuhrembargo
       für georgische Weine, dem wichtigsten Exportartikel des Landes, und
       bekräftigte seine Opposition gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine und
       Georgiens. Wladimir Putins Münchner Rede vom 10. Februar 2007 enthielt eine
       explizite Warnung an die Adresse Washingtons: Die USA hätten die
       vorübergehende Schwäche Russlands nach der Auflösung der UdSSR ausgenutzt,
       um die geopolitische Karte der Region neu zu zeichnen. Man werde aber nicht
       zulassen, dass die USA an den russischen Grenzen das tue, was sie an ihren
       eigenen unter keinen Umständen dulden würden.
       
       Entsprechend wertete Moskau den US-Raketenabwehrschild in Polen und
       Tschechien wie das Drängen Washingtons auf den Nato-Beitritt Georgiens beim
       Gipfel von Bukarest im April 2008 als Provokation.
       
       Georgien zahlt für Fehler in Washington 
       
       Vor diesem Hintergrund lieferte der Einmarsch Georgiens in Südossetien dem
       Kreml einen unerhofften Vorwand, um wieder selbst die Initiative zu
       ergreifen. In wenigen Tagen gelang es der russischen Armee, die Lage unter
       Kontrolle zu bringen und seine Blauhelmsoldaten und die südossetische
       Bevölkerung zu schützen, darüber hinaus aber auch alle neuen Militäranlagen
       in Georgien zu zerstören und ihren beherrschenden Einfluss in Südossetien
       wie in Abchasien auszubauen.
       
       Was immer das Pentagon behauptet: Die US-Regierung war mit Sicherheit über
       die Einmarschpläne Saakaschwilis unterrichtet, hat diese aber nicht
       gebremst. Ohne die russische Verantwortung herunterzuspielen: Das Drama in
       Georgien ist ein Ergebnis der gescheiterten US-Strategie, einer Politik der
       Konfrontation, die Moskau herausgefordert und die Interessen Russlands in
       dessen "nahem Ausland" missachtet hat.
       
       Angesichts der Parteinahme Washingtons für Tiflis waren die Europäer
       gefordert, die Bedingungen für einen Waffenstillstand auszuloten und eine
       politische Lösung der festgefahrenen Konflikte anzugehen. Das ist keine
       leichte Aufgabe, weil die Positionen ihrer Mitgliedstaaten ziemlich
       auseinandergehen. Einige Beitrittsländer wie Polen und die baltischen
       Staaten unterstützten aktiv den Wunsch Saakaschwilis nach einem Beitritt
       Georgiens zu Nato und EU und üben heftige Kritik an der russischen
       Militärintervention. Andere dagegen machten keinen Hehl aus ihrer
       Verärgerung über den Druck, den die USA ausübten, um den Nato-Beitritt
       Georgiens zu beschleunigen. Im Bewusstsein der historisch wichtigen
       europäisch-russischen Beziehungen - und zwar nicht nur in Bezug auf das
       Thema Energieversorgung - plädierten sie für ein behutsameres Vorgehen und
       forderten den gleichzeitigen Rückzug der georgischen und russischen Truppen
       auf ihre jeweilige Ausgangspositionen.
       
       Dass die Europäer nur schwer Gehör für ihre Vorschläge fanden, liegt in
       erster Linie an ihrer eigenen Kosovopolitik. Die Anerkennung Kosovos
       entgegen der Warnungen Russlands hat einen Präzedenzfall geschaffen, auf
       den sich nun alle separationswilligen Regionen berufen. Es ist absolut
       nachvollziehbar, dass Südosseten und Abchasen, aber auch die Armenier in
       Karabach sich darauf beziehen.
       
       Die Behauptung der Europäer, Kosovo sei ein Sonderfall, ist nicht
       überzeugend. Und auch die Abkommen im Rahmen der europäischen
       Nachbarschaftspolitik (ENP) sind extrem widersprüchlich formuliert und
       belegen, wie schwer sich die Europäer mit der heiklen Frage der
       südkaukasischen Konflikte tun. So verweisen die mit Georgien und
       Aserbaidschan ausgehandelten Aktionspläne auf die Unverletzlichkeit der
       Grenzen als ein Grundprinzip (Punkt 4.2); im Gegensatz dazu wird im
       Aktionsplan für Armenien (Punkt 1) das Prinzip der Selbstbestimmung der
       Volksgruppen hervorgehoben.
       
       2006 hatte Javier Solana in seiner Funktion als Hoher Vertreter für die
       Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Bezug auf die Abchasen
       und Osseten betont: "Sie müssen in Georgien bleiben wollen, und dafür muss
       Georgien etwas tun." Der Einmarsch der georgischen Armee in Zchinwali hat
       die Aussicht auf eine schnelle Rückkehr Südossetiens unter die Fittiche
       Georgiens weiter verschlechtert und die Vermittlungsbemühungen der Europäer
       sehr erschwert. Noch mühsamer sind deren Verhandlungen geworden, seit sich
       die Bedingungen vor Ort geändert haben: Nach Medienberichten aus dem Umland
       Zchinwalis sind die georgischen Dörfer nördlich der südossetischen
       Hauptstadt seit den Kämpfen im August menschenleer.
       
       Die Kräfteverteilung im Lande ist dadurch noch weiter aus dem Lot geraten.
       
       Der russische Premierminister Putin sprach am 9. August bei seinem Besuch
       in der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas von einem versuchten
       "Völkermord" an den Osseten. Diese Einschätzung trifft so sicher nicht zu,
       auch wenn die Bombardierungen äußerst brutal waren. Putin bezog sich zudem
       auf unüberprüfbare Opferstatistiken (rund 2 000 tote Zivilisten nach
       russischen Quellen). Er erklärte: "Präsident Saakaschwili hat der
       territorialen Integrität Georgiens den Todesstoß versetzt."
       
       Damit kündigte er bereits an, dass Russland die Unabhängigkeit der beiden
       abtrünnigen Regionen unterstützen werde.
       
       Die offizielle Anerkennung erfolgte am 26. August durch den russischen
       Staatspräsidenten Dmitri Medwedjew.
       
       Die westlichen Staats- und Regierungschefs waren erneut überrumpelt. Doch
       für die Georgier, die schon außerhalb des Südossetienkonflikts mit
       russischen Großmachtansprüchen konfrontiert wurden, war die Katastrophe
       perfekt. Sie zahlten damit die Zeche für die gescheiterte US-amerikanische
       Konfrontationsstrategie. In dieser Situation können einzig die Europäer
       eine kreative politische Lösungsformel vorschlagen, die aus der Sackgasse
       herausführen und zugleich die Unabhängigkeit Georgiens garantieren kann.
       
       Mehrere entsprechende Vorschläge wurden schon früher auf den Tisch gelegt,
       etwa der eines neutralen und entmilitarisierten Staats im Rahmen der
       Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Aber eine solche Lösung muss
       jetzt auch die Präsenz Moskaus in der Region in Rechnung stellen.
       
       Der Kreml hat seine günstigen Karten bis zum Letzten ausgereizt, indem er
       mit gewaltsamen Mitteln klarmachte, dass man nicht gewillt ist, im eigenen
       "nahen Ausland" auch nur einen einzigen weiteren Quadratmeter Boden
       aufzugeben. Die russische Regierung nimmt dafür das Risiko in Kauf, die
       gesamte Kaukasusregion zu destabilisieren. Und kann dabei nicht einmal
       Rückwirkungen innerhalb der Russischen Föderation ausschließen, auch wenn
       Tschetschenien unter der eisernen Hand Ramsan Kadyrows auf dem Wege der
       "Normalisierung" zu sein scheint.
       
       Die Absicht Russlands ist in Zukunft sichtlich anderer Natur: den Westen
       dazu zu bringen, die Beziehungen zu Moskau neu und zu dessen Vorteil zu
       gewichten. Das ist für die russische Führung aber ein riskantes Spiel, denn
       Europa mag vom russischen Erdgas abhängig sein, doch umgekehrt hat sich die
       russische Gesellschaft - weit über den wirtschaftlichen Aspekt hinaus -
       noch nie so weit nach Westen geöffnet wie heute. Und es ist keineswegs
       sicher, ob diese Gesellschaft es künftig ohne weiteres hinnimmt, wenn diese
       Öffnung durch eine Machtdemonstration der Armee gefährdet wird.
       
       12 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jean Radvanyi
       
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