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       # taz.de -- Vier Arme und ein Elefantenkopf: Loblieder und Bollywood-Hits
       
       > Einmal im Jahr feiern die indischen Hindus Ganesh Chathurti. In Pune wird
       > es auch dazu genutzt, auf dringende Abfallprobleme aufmerksam zu machen
       
   IMG Bild: Farbenprächtige Ganesh-Figuren
       
       „Ganpati Bappa Morya - Väterchen Ganesh lebe hoch!“ Mit lauten Rufen folgen
       etwa einhundert Menschen einem mit Blumen und bunten Papiergirlanden
       verzierten Lastwagen, auf dem eine meterhohe Götterstatue thront. Viele
       tanzen auf der Straße, Trommler schlagen dazu den Takt, Schalmeienbläser
       setzen kapriziöse Tonläufe darauf. Schaulustige werden ermuntert, in den
       Jubelchor einzustimmen und sich in die Prozession einzureihen. Kaum jemand
       kann sich der Begeisterung der Festgemeinde entziehen.
       
       Hindus in ganz Indien feiern im September Ganesh-Chathurti, ein zehntägiges
       Fest zu Ehren des Herrn der Weisheit, des Hüters von Wohlstand und Glück.
       Die Gottheit wird stets mit vier Armen, einem runden Wohlstandsbauch und
       dem Kopf eines Elefanten dargestellt. Der mächtige Shiva, Welterhalter und
       -zerstörer im Hindu-Pantheon, habe aufgrund eines Missverständnisses seinen
       Sohn enthauptet, überliefern die heiligen Schriften. Aber der Zorn seiner
       Gattin Parvati stimmte Shiva um, und er befahl seinen Helfern, den Kopf des
       ersten Lebewesens zu holen, das sie träfen. Sie kehrten zurück mit dem Kopf
       eines Elefanten. Shiva setzte ihn auf den Rumpf seines Sohnes und hauchte
       ihm neues Leben ein.
       
       Wegen seiner sympathischen Erscheinung und seiner segensreichen Kräfte
       zählt Ganesh zu den beliebtesten Göttern in Indien. Viele Gläubige rufen
       ihn vor schwierigen Entscheidungen, vor langen Reisen oder wichtigen
       Geschäften um Hilfe an.
       
       Pune und das benachbarte Mumbai, früher Bombay, sind die Hochburgen des
       Ganesh Chathurti. An nahezu jeder Straßenecke, auf Hinterhöfen und
       öffentlichen Plätzen schießen dort temporäre Tempel aus dem Boden, riesige
       Wellblechbuden, mit bunten Stoffen bespannt. Mit von Pappmachee und
       Styropor bauen pfiffige Handwerker darin epische Szenen mit Götterfiguren
       und Heiligen auf. Immer häufiger tauchen auch Darstellungen der modernen
       Welt auf, etwa Flugzeuge oder Computer. Alles ist möglich, Hauptsache, es
       zieht Publikum an.
       
       Dazu sollen auch Türme von Lautsprecherboxen dienen, die von morgens bis
       abends religiöse Hymnen und Bollywood-Schlager in voller Lautstärke
       ausstrahlen. Ganesh hat das Kommando über die Stadt übernommen. Vielerorts
       kommt der Verkehr zum Erliegen. Schulen, Behörden und Fabriken bleiben
       tagelang geschlossen. Eine Stadt im Ausnahmezustand.
       
       An einer Bretterbude, bis oben gefüllt mit bunt bemalten Ganesh-Figuren,
       erwirbt Vikas Shirole einen Gott. „Wir holen heute Ganesh zu uns nach Hause
       und werden ihn zehn Tage lang bewirten“, kommentiert der Volksschullehrer.
       „Wir behandeln ihn wie ein Familienmitglied, kochen seine Lieblingsspeisen,
       beten und singen für ihn.“ Und seine Tochter Shruti schwärmt: „Ganesh ist
       mein Liebling. Während des Festes herrscht im Haus eine besondere Stimmung,
       man spürt seine Anwesenheit. Wir erhalten viel Besuch und verteilen
       Süßigkeiten. Das Fest bietet eine gute Gelegenheit, Freunde und
       Familienmitglieder zu treffen!“
       
       Ursprünglich war das Ganesh-Fest eine private Angelegenheit. Vor rund
       einhundert Jahren rief der Journalist Bal Gangadhar Tilak dazu auf, die
       beliebte Gottheit öffentlich zu verehren. Im Jahr 1893 organisierte er in
       Pune die ersten öffentlichen Gebete und Prozessionen. Tilak, der auch unter
       seinem Ehrentitel Lokmanya (Hindi: vom Volk Verehrter) bekannt ist, war
       glühender Nationalist und gilt als Vater der antikolonialen
       Freiheitsbewegung. Er machte sich die Popularität Ganeshs zunutze, um das
       Versammlungsverbot zu unterlaufen, mit dem die britischen Kolonialherren
       jegliche Opposition unterdrückten. Lokmanya Tilak gründete Jugendklubs,
       sogenannte Mandals, die im Namen Ganeshs Geld für kulturelle
       Veranstaltungen sammelten, Literaturabende, Tanzvorführungen und auch
       politische Debatten organisierten. Diese Tradition wird bis heute lebendig
       gehalten.
       
       Wenn die Arbeit des Tages getan ist und die Abendsonne die Stadt in warmes
       Licht taucht, füllen sich die Straßen der Altstadt mit Schaulustigen und
       Unterhaltungshungrigen. Es scheint, als sei die ganze Stadt auf den Beinen.
       Viele Straßen sind für Autofahrer gesperrt, selbst für Fußgänger schreibt
       die Polizei Einbahnstraßen vor, um Staus und Stampeden zu vermeiden. Aus
       den Städten und Dörfern der Umgebung strömen zahlreiche Pilger nach Pune,
       um von Straßentempel zu Straßentempel zu ziehen, fromme Lieder für Ganesh
       zu singen, Theater und Tanz zu genießen.
       
       Eine der ältesten und bekanntesten Tempel der Stadt, der Dagdu Seth Halwai
       Ganpati, benannt nach seinem Stifter, einem reichen Kaufmann, steht mitten
       in der Altstadt. Wegen des großen Andrangs muss die Statue während des
       Festes in ein riesiges, temporär aus Holz und Plastik errichtetes
       Auditorium umziehen, das einem Tempel im Norden nachempfunden ist. Zum
       festlichen Anlass wird die rund zwei Meter hohe Statue von Kopf bis Fuß mit
       Juwelen geschmückt: Seine goldene Krone, Halsbänder, Ohrringe und Armreifen
       sind mit Diamanten, Smaragden und Rubinen besetzt. Polizisten und zivile
       Wachmänner zu seiner Seite lassen vermuten, dass die Geschmeide, mit
       Spenden von Gläubigen erworben, keine Imitate sind.
       
       Ein paar Straßen weiter lockt eine Trommlergruppe die Menschen in ein
       weitaus bescheideneres Auditorium. Im Inneren hängen schaurige Bilder von
       qualmenden Müllhalden, machen leere Plastikflaschen und kaputte
       Computermäuse auf die drängenden Abfallprobleme in Pune aufmerksam. Ein
       Helfer kündigt eine Live-Show an. Schauspieler betreten die von einer
       großen Ganesh-Statue dominierte Bühne. In Sketchen und Liedern beschreiben
       die Bewohner von Urali Devachi ihre Nöte. In dem Dorf 30 Kilometer vor der
       Stadtgrenze landet der gesamte Müll auf einer ungesicherten Deponie. „Wir
       zeigen hier, wie die Menschen in Urali Devachi unter unserem Müll leiden.
       Das wollen wir ändern, und darum bringen wir den Menschen bei, Abfall zu
       vermeiden und Müll zu trennen“, sagt Rajendra Shinde, Präsident des
       Maharashtra Jugendklubs. Klubmitglieder leisteten freiwillig Sozialarbeit
       im Stadtviertel und nutzten das Ganesh-Fest, auf Missstände aufmerksam zu
       machen. Rajendra Shinde macht kein Hehl aus seiner Mitgliedschaft in der
       rechtsradikalen Hindupartei Shiv Sena, die in Maharashtra über großen
       Einfluss verfügt.
       
       Die beiden westlichen Unionsstaaten Maharashtra und Gujarat sind treibende
       Kräfte im indischen Wirtschaftsboom. Pune ist eine der am schnellsten
       wachsenden Städte des Landes. Einhundertfünfzig Jahre lang war sie
       Hauptstadt des Maratha-Reiches, das Krieg mit den mächtigen Mogulen führte
       und seine Soldaten bis vor die Tore Delhis schickte. Unter britischer
       Herrschaft entwickelte sich Pune zu einem Zentrum für Bildung und
       Wissenschaft. Das große Potenzial gut ausgebildeter Fachkräfte, die Nähe
       zur Metropole Bombay und das vergleichsweise milde Klima förderten jüngst
       die Entwicklung zu einem Zentrum der globalen Software- und der
       Automobilindustrie. Mit Fabriken von Thyssen-Krupp, Daimler-Benz und
       demnächst auch von Volkswagen bildet Pune einen Schwerpunkt deutscher
       Investitionen in Indien. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre wuchs die
       Bevölkerung von drei auf heute vier Millionen Menschen an.
       
       Die Gegend um den Dagdu-Seth-Halwai-Ganesh-Tempel in der Altstadt ist
       während des Festes zur Fußgängerzone umfunktioniert. Schräg gegenüber dem
       Tempel steht ein unscheinbares, fensterloses Gebäude mit Aluminiumfassade,
       das man für ein Bankinstitut halten könnte, würde darauf nicht ein großes
       Ganesh-Idol prangen. Hier residiert die Stiftung, die den Tempel und seine
       nicht unerheblichen Spendeneinkommen verwaltet. Das dritte Stockwerk
       besteht aus einem kleinen Vorzimmer und einem geräumigen Salon. Darin
       sitzen sechs Tempeldiener an einem riesigen runden Tisch vor einem großen
       Haufen Geldscheinen. Sie zählen die Spenden des Vormittags.
       
       Sie kommen mit Lastwagen, mit Handkarren, im Kofferraum von Privatwagen.
       Arm und Reich, Jung und Alt, alle versammeln sich am Flussufer. Dabei wird
       laut gerufen, Straßenbands und Tanzgruppen unterhalten die Festgäste.
       Nachdem Ganesh zehn Tage lang als Gast verwöhnt wurde, gerät der Abschied
       zum Höhepunkt des Festes. Hunderte von Prozessionen, manche nur aus einer
       Familie bestehend, andere mit mehreren hundert Teilnehmern, mit
       Musikbegleitung und Ordnerpersonal, machen sich am elften Tag auf den Weg
       zum Fluss, um ihren Gott der Natur anzuvertrauen. Dieser von Lokmanya Tilak
       inspirierte Brauch entwickelte sich zu einem prachtvollen Wettkampf, bei
       dem jeder Mandal seine Stärke und sein Können zur Schau stellt. Man
       wetteifert um die Größe der Statue, den Aufwand für das Schmücken der
       Lastwagen, die Lautstärke der Musik, die Zahl der Fans. Im vergangenen Jahr
       zogen sich die Prozessionen über 30 Stunden hin, durch die Nacht bis zum
       Morgengrauen.
       
       Trommelschläge wehen über die Stadt, Rauch steigt auf, tausende bunte
       Lichter erhellen die Nacht. An den etwa 20 ausgewiesenen Versenkungsstätten
       an den Ufern der Flüsse Mula und Mutha treffen immer neue Prozessionen ein.
       Unter lauten Gesängen und „Ganpati Bappa Morya“-Rufen tragen die Gläubigen
       ihre Lieblinge die letzten Schritte zu Fuß zum Fluss, setzen sie am Ufer
       unter einen Baum oder auf die Treppen eines Tempels. Ein letztes Gebet,
       doch von Abschiedsschmerz keine Spur. Mit fröhlicher Inbrunst singen die
       Menschen Loblieder, brennen Räucherstäbchen ab und führen brennende
       Öllampen über den Oberkörper der Gottheit. Junge, kräftige Männer tragen
       die Statuen dann ins Wasser und lassen sie in der Mitte des Flusses
       versinken. Andere beauftragen einen Bootsmann damit und schauen vom Ufer
       aus zu. Von diesem Moment an freuen sich die Menschen auf das Ganesh-Fest
       im kommenden Jahr. Alle haben sich prächtig amüsiert, viele haben gute
       Geschäfte gemacht. Familien haben zueinandergefunden, Politiker mit guten
       Taten auf sich aufmerksam gemacht.
       
       Aber nicht alle sind zufrieden. Punes Flüsse und Seen haben an zigtausenden
       versenkten Ganesh-Statuen arg zu leiden. „Das Problem ist nicht der Glaube,
       es sind die Materialien, aus denen die Statuen heute bestehen“, meint die
       Ökoaktivistin Manisha Gutman. „Früher aus Lehm werden sie heute aus Gips
       hergestellt. Dieser baut sich aber viel langsamer ab. Allein in Pune werden
       jedes Jahr schätzungsweise 50.000 Ganesh-Statuen versenkt. Eine
       Untersuchung ergab, dass die Flüsse voller alter Statuen sind, sie brauchen
       Jahre, bis sie sich vollständig aufgelöst haben. Ein weiteres Problem sind
       moderne chemische Farben, die Quecksilber und Blei enthalten.“
       
       Manisha Gutman arbeitet mit Freunden aus der Umweltinitiative Kalpavriksh
       in einer Kampagne für „Sichere Feste“. Sie konnten die Stadtverwaltung
       davon überzeugen, große Wassertanks am Flussufer aufzustellen, in denen
       Gläubige ihre Statuen versenken können. In Zusammenarbeit mit einer
       Gewerkschaft von Müllsammlern organisieren sie das Einsammeln von
       Blumenkränzen und anderem schmückenden Beiwerk, das später kompostiert,
       recycelt oder verkauft wird. Manisha Gutman: „Ursprünglich war die
       Versenkung ein Symbol für den Glauben, alles entspringe der Erde und alles
       werde wieder zu Erde. Daran müssen wir die Menschen heute immer wieder
       erinnern!“
       
       3 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Hörig
       
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   DIR Reiseland Indien
       
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