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       # taz.de -- Russland spielt auf Zeit: Biblischer Hass auf Georgien
       
       > Den Zerfall der UdSSR sieht Putin als die große Katastrophe des 20.
       > Jahrhunderts. Und versucht ihn - zumindest teilweise - rückgängig zu
       > machen.
       
   IMG Bild: Russland hat sich verpflichtet, seine Truppen aus Georgien umgehend abzuziehen. Ob der russische Premier Putin (Mitte) und sein Kabinett sich daran halten?
       
       MOSKAU taz Am Samstag unterzeichnete Kremlchef Dmitri Medwedjew den
       Sechsstufenplan zur Beilegung des Konfliktes in Georgien. Russland
       verpflichtet sich damit, seine Truppen umgehend aus dem Staatsgebiet
       Georgiens zurückzuziehen und den Status quo vor den bewaffneten
       Auseinandersetzungen wiederherzustellen. Bislang stehen russische Einheiten
       jedoch noch auf georgischem Territorium. "Eine Entscheidung über den Abzug
       der Einheiten der 58. Armee und der Luftlandetruppen aus Südossetien wird
       je nach Stabilisierung der Lage in der Region getroffen", hatte ein
       Sprecher des Verteidigungsministeriums am Sonntag in Moskau mitgeteilt.
       Wenig später kündigte Präsident Medwedjew dann den Beginn des Rückzugs für
       diesen Montag an.
       
       Die Verzögerungstaktik wird sich noch über einige Zeit hinziehen, denn
       Russland spielt auf Zeit. An Vereinbarungen fühlt sich das siegestrunkene
       Moskau momentan ohnehin nicht sonderlich gebunden. Der Grund für die
       Hinhaltetaktik liegt auf der Hand. Noch haben sich die unterschiedlichen
       Machtzentren in Moskau nicht darüber verständigt, ob das Kriegsziel
       erreicht ist. Ein Rückzug würde Moskau zwar international ein Gramm
       Glaubwürdigkeit verschaffen. Traditionalisten und Hardliner der
       Sicherheitsstrukturen legen darauf jedoch keinen Wert. Sie plädieren seit
       langem dafür, Russland vom Westen wieder abzuschotten. In der Annahme, dies
       werde ihre uneingeschränkte Macht innenpolitisch auf Jahre fortschreiben.
       
       Eines der Kriegsziele dieser Fraktion war die Entmachtung des georgischen
       Präsidenten Michail Saakaschwili. Der unberechenbare Heißsporn sitzt nach
       dem russischen Einmarsch jedoch zunächst fest im Sattel, vielleicht fester
       als zuvor. Sollte der Westen nach einem Abzug der russischen Truppen
       großzügige Aufbauhilfe leisten, würde dies dem Präsidenten gutgeschrieben.
       
       Bleibt Russland jedoch im Kernland stehen, führt dies unweigerlich zu einer
       Destabilisierung des Regimes in Tiflis. Auf wenig Begeisterung stößt in
       Russland auch die Initiative des Westens, Verhandlungen über die
       Stationierung von Blauhelmen in den abtrünnigen georgischen Regionen
       einzusetzen. Das läuft russischen Interessen nicht nur zuwider; die jüngste
       Kriegsbeute würde Moskau wieder entrissen, es stünde trotz des Sieges am
       Ende mit leeren Händen da.
       
       Ein Pyrrhussieg ließe sich nur schwer verkaufen, zumal Russland zurzeit in
       einer Phase des national aufgeladenen Übermuts schwelgt. Weit mehr als zwei
       Drittel der Bevölkerung unterstützen den Feldzug und halten auch eine
       Annektion Südossetiens für angemessen.
       
       Beobachter in Moskau werten den Krieg als ein Zeichen, dass die Fraktion
       der Silowiki, der Vertreter aus allen Sicherheitsministerien und Strukturen
       vom Geheimdienst bis zur Armee, in Moskau endgültig die Oberhand gewonnen
       hat. Bislang wirkte Wladimir Putin zwischen den widerstreitenden Fraktionen
       als Schiedsrichter und garantierte eine gewisse Balance. Im jüngsten
       Konflikt scheint sich der Premierminister unterdessen auf die Seite der
       bellizistischen Fraktion geschlagen zu haben. Dafür gibt es viele Gründe:
       Biblischer Hass verbindet den ehemaligen Kremlchef mit Saakaschwili.
       Außerdem leidet Putin schwer am Niedergang der Sowjetunion, der für ihn die
       "größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts" darstellt.
       
       In dem Konflikt traten erstmals auch Meinungsunterschiede zwischen
       Kremlchef Medwedjew und seinem Mentor Putin auf, die das Land seit Mai als
       Tandem regieren. Das bestätigen selbst Ideologen wie der kremlnahe
       PR-Stratege Sergei Markow: "Ich glaube, intern gab es einige
       Meinungsunterschiede. Aber sie werden es niemals zulassen, dass die
       Differenzen an die Oberfläche kommen."
       
       Dies ließ sich jedoch nicht ganz vermeiden. Während Putin sich demonstrativ
       in Nordossetien mit Flüchtlingen zeigte und Kremlvertreter sowie Diplomaten
       noch am Dienstag aggressiv von einer Affäre sprachen, die "zum logischen
       Ende" geführt werde - sprich der Entthronung des widerspenstigen
       Saakaschwili -, platzte Präsident Medwedjew mit der Nachricht herein,
       Frankreichs Präsident Sarkozy und er hätten einen Waffenstillstandsplan
       ausgearbeitet. Der politische Beobachter Alexander Rychlin zitiert in der
       Internetzeitung "jeschedjewnij journal" eine Quelle aus dem Umfeld der
       Kreml-Administration, die auch auf deutliche Differenzen hinweist: "Heute
       kann man von ernsten Meinungsunterschieden zwischen Präsident und
       Premierminister über das weitere Vorgehen im Kaukasus sprechen. Der
       Präsident hatte von Beginn der Operation an nicht vor, über die Grenzen der
       Friedensmission in Südossetien hinauszugehen." Ab einem bestimmten Punkt
       wäre seine Entourage indes auf ihn eingestürmt, um ihn von der "Logik des
       Krieges" und der unerwarteten Möglichkeit, "wichtige geopolitische
       Aufgaben" zu lösen, zu überzeugen. Medwedjew soll auf die ernsthaften
       außenpolitischen Konsequenzen, hohe Verluste und mangelnde Vorbereitung der
       militärischen Operation hingewiesen haben.
       
       Ist Dmitri Medwedjew die Friedenstaube und Wladimir Putin inzwischen der
       Falke? Dieses Bild entspricht dem westlichen Wunschdenken, seit Putin
       Medwedjew im letzten Dezember zum Nachfolger erkor. Es trifft jedoch nicht
       den Kern des Problems. Stilistisch bewegt sich Medwedjew in einer anderen
       Liga, er spielt Polo, seine Umgebung Faustball. Dem russischen
       Großmachtdenken ist er aber genauso verhaftet wie der Rest der politischen
       Führungsschicht. Die Verzögerungstaktik nach der Unterzeichnung des
       Friedensplans durch Medwedjew unterstreicht nur die Vermutungen, dass der
       Kremlchef nicht Herr im Hause ist.
       
       Wer im Kaukasus Frieden möchte, sollte sich direkt an Wladimir Putin
       wenden. Das Machtgefälle spiegelt sich übrigens auch in der Wahrnehmung der
       russischen Medien wider. Medwedjew beging vor kurzem seinen
       100-Tage-Einstand als Präsident, Putin die ersten 100 Tage als Premier.
       Letzter wurde ausführlich gewürdigt, der Kremlchef musste mit
       Pflichtstückchen Vorlieb nehmen.
       
       Noch verfügt Medwedjew über keine Hausmacht, daran wird sich auch in
       absehbarer Zeit nichts ändern. Denn mit dem Kaukasuskonflikt erübrigt sich
       die bislang offene Frage, wie Russland mit dem neuen Führungsmodell eines
       gedoppelten Machtzentrums umgehen werde. Putin lässt sich die Zügel nicht
       aus der Hand nehmen.
       
       All dies könnte die russische Politik gefährlich und unberechenbarer
       machen. Die Führung der Silowiki gibt als nationales Interesse aus, was
       rein privatem dient. Deren Politik folgt taktischen Überlegungen der
       Vorteilsnahme, keinem strategischen Interesse. Denn das müsste angesichts
       des instabilen Nordkaukasus den Frieden in der gesamten Region fördern.
       
       18 Aug 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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