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       # taz.de -- Das Seemansheim in Hamburg:: Der letzte Hafen
       
       > Der vierte Stock der Seemannsherberge neben dem Hamburger Michel ist zu
       > einem unfreiwilligen Altersheim geworden. Die Zimmer sind winzig, doch
       > manche der Seeleute wohnen mehr als zehn Jahre dort.
       
   IMG Bild: Um fünf öffnet der Kneipenraum im Seemannsheim. Hier treffen sich die Bewohner des vierten Stocks. Man kennt sich.
       
       Viel ist noch nicht los an diesem Donnerstag, Klaus kommt heute ein
       bisschen später. Im Hinterhof des Hamburger Seemannsheims stehen zwei
       Tische, darauf Kaffee aus Plastikbechern und Fertigkuchen. Es ist
       Seemannssonntag, wie jeden Donnerstag. Auf den Bänken sitzen ein paar
       Mitbewohner und unterhalten sich. Klaus entscheidet sich für einen
       Plastiksessel, gegenüber von Wolfgang, an dessen Stuhl heute Krücken
       lehnen. Wie kommt der Blödmann zu den Krücken, fragt er sich.
       
       "Ein Unfall mit der leichten Kavallerie", sagt Wolfgang. Ein Fahrrad habe
       ihn zu Fall und dann ins Krankenhaus gebracht. Aber nicht lange. So schnell
       wie möglich sei er wieder nach Hause gefahren. Ein fahrerflüchtiger Radler
       bringt ihn nicht um seine Unabhängigkeit. Klaus hört zu und nickt. Die
       beiden Männer sind sich ähnlich. Sie wirken zerbrechlich, sind ergraut und
       ihre Gesichter zerfurcht.
       
       Im Seemannsheim ist eine Unterkunft für Seeleute, auch wenn dort inzwischen
       genauso Touristen und Jugendgruppen übernachten. Durchschnittlich bleiben
       die Gäste 4,3 Tage. Die Mitarbeiter möchten die Seeleute unterstützen,
       durch "psychosoziale Gespräche", aber auch bei behördlichen Briefwechseln
       und bei der Jobsuche.
       
       Die Herberge am Fuß des Michels gibt es seit 1952. Die Rückwand der
       Eingangshalle ist verglast, helles Licht fällt auf das gelbliche Linoleum.
       Ein paar Sessel stehen herum und ein niedriger Tisch. Ein paar Gäste sind
       an der Rezeption, ein älteres Ehepaar, eine Handvoll Jugendlicher. Einige
       Afrikaner sind auf der breiten Treppe unterwegs, die vom Foyer nach oben
       führt. Einer wartet unten, hat sein Handy am Ohr und spricht schnell und
       laut. Er muss bald anheuern, Geld verdienen. Um seine Familie in Ghana zu
       versorgen.
       
       "Klaus?" Ein älterer Mitarbeiter an der Rezeption braucht eine Weile, um
       sich den Mann ins Gedächtnis zu rufen. Er überlegt laut, geht Namen durch,
       ruft einen anderen an. Schließlich kann er sich erinnern: "Das ist so ein
       stilles Kerlchen, der schleicht hier so herum."
       
       Seit 13 Jahren wohnt Klaus im Seemannsheim. Er ist 64 Jahre alt, schmal und
       klein, ein wenig wackelig auf den Beinen. Er geht langsam, seine Bewegungen
       sind vorsichtig und ruhig, seine Wangen eingefallen. Er wirkt älter.
       
       21 Jahre ist er zur See gefahren, dann musste er an Land, seinen Sohn
       versorgen nach der Scheidung. Als sein Sohn erwachsen wurde, zog er ins
       Seemannsheim - und blieb dort hängen.
       
       Oben im vierten Stock sieht es anders aus als im Rest des Gebäudes. Während
       in den unteren Etagen leere, weiße Flure zu modern eingerichteten Zimmern
       führen, endet das Treppenhaus bei einer hölzernen Sitzecke mit einer großen
       Eckbank. Der massive Tisch ist mit Blümchendecke und kleinen Gartenzwergen
       geschmückt, durch die Dachfenster blickt man auf den Michel. "Willkommen im
       Hochsicherheitstrakt", sagt Klaus. Er ist mit dem Fahrstuhl gekommen,
       Baujahr 1952. Die Bewohner der Zimmer hier oben sind Dauergäste, kaum einer
       ist jünger als 50. Renoviert wurde noch nicht, die Männer selbst wollten
       keine Veränderung.
       
       Klaus hat eines der größeren Zimmer. Zwischen einen Kleiderschrank und ein
       grau gestreiftes Sofa passt noch ein Tischchen. Auch einen Kühlschrank hat
       er untergebracht. "Proviant hab ich immer genug", sagt er, als er die
       Kühlschranktür öffnet. Auf einem dunkelbraunen Wandregal stehen
       Vitaminpräparate.
       
       Die Küche auf dem Flur muss Klaus nicht benutzen: Auf einem Stuhl liegt ein
       brotkorbgroßes, weißes Maschinchen - ein kleiner Backofen mit Stromkabel.
       Den stellt er auf die Fensterbank seiner Dachluke: eine selbst gemachte
       Dunstabzugshaube. Klaus hat vieles aufgehoben und wenig gelüftet. Sein
       schlichtes Bett ist nicht breiter als ein Meter. "Wir sind das von der See
       gewohnt", sagt er. Da hatte er nur eine Klappbank.
       
       Auch in den kleineren Dachzimmern, in die ein Tisch nicht mehr hineinpasst,
       arrangieren sich die Männer. An diesem Tag knallt die Hitze auf die oberste
       Etage. "Ich lass ja die Tür auf", sagt einer, der in Boxershorts über den
       Flur schlappt. Ein anderer hat Besuch bekommen, der untersetzte Senior
       klemmt auf einem Holzstuhl, sein Freund, ein dünner Kerl im selben Alter,
       hat sich auf das Bett plumpsen lassen. Es ist eng zu zweit, aber die beiden
       stört das nicht. Der Gastgeber wohnt hier länger als alle anderen. Seit
       neunzehn Jahren. Sprechen möchte er nicht darüber. Vielleicht später, sagt
       er.
       
       Im Seemannsheim lebt es sich günstig. 11 Euro kostet die Nacht, für die
       Dauergäste gibt es einen Pauschalpreis von rund 250 Euro im Monat.
       Eigentlich möchte Geschäftsführerin Gisela Weber in Zukunft weniger
       Senioren beherbergen. Sie denkt daran, Neueinzüge nicht mehr zuzulassen:
       "Wir wollen kein Altenheim werden", sagt sie.
       
       Sie hatte sich das schon beim Einzug der jetzigen Bewohner vorgenommen.
       "Bleib hier, aber du musst dir was suchen", hat sie zu den Neuankömmlingen
       gesagt. Und so erzählt ihr Rentner Wolfgang schon seit seinem Einzug vor
       vier Jahren von einer Umschulung - die er immer wieder verlängert.
       
       Armin ist heute guter Dinge. Braun gebrannt, in kurzen Hosen und
       Muskelshirt schwoft der ergraute Matrose über den Flur. Seine Nase leuchtet
       rot, bald möchte er nach Mallorca. Oder wieder auf See. "Ich mach nicht
       Heia, ich geh jetzt auf'n Kiez und dann knack knack!", schallert er aus
       seiner Tür. Seine Zimmernachbarn antworten nicht.
       
       Streit gibt es manchmal, erzählt Klaus. Besonders einen stört jede Fliege
       an der Wand: "Der kriegt dann ab und zu mal ne Backpfeife, dann weiß er
       wieder Bescheid", sagt Klaus. Er spricht langsam und leise, seine Schultern
       hängen. Doch wenn er etwas deutlich machen will, fahren seine Arme durch
       die Luft.
       
       Von Gemeinschaft möchte hier niemand sprechen. Kein Vergleich sei der
       vierte Stock mit dem Leben an Bord. "Die sind alle Einzelgänger, die
       mussten so oft ,Auf Wiedersehen' sagen und so oft ,Guten Tag'", schätzt
       Geschäftsführerin Weber.
       
       Ab fünf öffnet die hauseigene Bar. Der grünlich gestrichene Kneipenraum ist
       größer als der sanierte Speisesaal nebenan. Es gibt Billiardtische,
       gedämmtes Licht und Rettungsringe an den Wänden, es darf geraucht werden.
       Hier treffen sich die Seeleute. "Die sind hier unter ihresgleichen", sagt
       Weber.
       
       Ab und zu bietet das Seemannsheim Ausflüge an. Mal einen Besuch im Theater,
       mal einen Grillabend. Vor ein paar Jahren sind sie gemeinsam in die
       Weihnachtsmesse gegangen. Schick gemacht, in Anzug und Krawatte, setzten
       sich die Seemänner auf die Bänke im Michel. Die Orgel spielte, der
       Gottesdienst begann und irgendwann schlief der Bewohner neben Weber ein.
       Später schnarchten auch andere.
       
       Es gibt viele Gründe, im Seemannsheim zu wohnen, erklärt Weber. Einige
       haben Probleme oder sind einsam. Es gibt Rentner und es gibt Ältere, die
       auf einen Job hoffen. Einige bekommen Überbrückungsgeld und warten, dass
       ihnen mit 65 die Rente ausgezahlt wird. So wie Klaus. Er möchte später in
       ein betreutes Wohnen gehen, in Tiefstack: "Da ist dann gleich die Elbe, da
       werf ich dann die Angel aus", Klaus angelt mit dem Arm in der Luft. Wann
       genau er das Seemannsheim verlassen will, kann er aber noch nicht sagen:
       "Immer mit der Ruhe. Easy "
       
       Viel lieber erzählt er von seiner Zeit an Deck, auf den Meeren.
       Verantwortlich für jede Schraube, die sich dreht, sei er gewesen. Und auf
       Weltreise. An Land, bei den Mädchen auf dem Kiez, hatte er immer einen
       Zwillingsbruder - und wurde Lügen-Klaus genannt. Zur See fahren wollte er
       schon immer, sagt Klaus. "Wenn ich etwas anfange, dann mache ich's zu
       Ende."
       
       Im Hinterhof sind die Stühle mittlerweile besetzt. Die Gäste schauen auf
       das übrig gebliebene Rasenstückchen zwischen den Hauswänden, ein
       Seemannsrentner aus Altona hat sich dazu gesellt, eine ehemalige Köchin der
       Herberge und der Hausmeister vom Michel. "Ach, der Heilige ist auch da, hab
       ich gar nicht gesehen!", begrüßt ihn einer.
       
       Im Garten steht auch die kleine Kapelle der Seemannsmission. Sie wird nur
       wenig genutzt. Die untere Etage des runden Schiefertürmchens hat große
       Fenster, drinnen stehen Sofas und Papierlampen. Sie dient als
       Aufenthaltsraum. Zum Andachtsraum eine Etage höher führt ein grauer
       Verbindungsgang aus dem ersten Stock des Heims.
       
       Klaus war noch nie oben, sein Gesprächspartner Wolfgang nur einmal. Bei der
       Beerdigung eines Mitbewohners vor ein paar Jahren. "Der ist jetzt auf dem
       Seemannsfriedhof in Ohlsdorf", sagt Werner. Er ist ebenfalls Rentner, hat
       eine strubbelige Kurzhaarfrisur und trägt ein ärmelloses grünes Shirt.
       Werner organisiert den Seemannssonntag ehrenamtlich. Jede Woche. Er bringt
       Kaffee, rückt Stühle, reicht Kuchen. Auf seinen Arm ist ein kleines Schiff
       tätowiert. Er war selbst unterwegs. Der Mann mit den blauen Augen kennt den
       Trott des Seemannsheims, die Männer und ihre Sorgen.
       
       "Wenn er hin ist, ist er hin, was soll man da noch sagen", sagt Klaus.
       
       11 Aug 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristiana Ludwig
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