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       # taz.de -- Adoleszenz und Egoshooter: Verballer Deine Jugend!
       
       > Jugendliche werden nicht zwingend gewalttätig beim Egoshooten - aber
       > verspielen Chancen: Arte widmet jugendlichen Extremzockern einen
       > Themenabend (Dienstag ab 21 Uhr).
       
   IMG Bild: Counter-Strike-Spielen - macht Kinder nicht zu potentiellen Mördern, sondern süchtig.
       
       Der Typ ist vollkommen klar im Kopf. Ruhig und überlegt schildert der
       Mittzwanziger seine Sucht. Zwei Jahre lang habe er wie auf Droge gespielt.
       16 Stunden am Tag saß er vor dem Bildschirm, im Wettkampf mit anderen
       Gamern im Web. "Den Rest des Tages habe ich meist geschlafen", sagt er. Nur
       um Pizza und Cola zu holen, verließ er seine Wohnung. Er hatte am Schluss
       keine Freunde mehr und Geld sowieso nicht. "Wenn ich ein Geräusch im
       Treppenhaus gehört habe, ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen",
       berichtet er, als wäre er sein eigener Therapeut.
       
       Der junge Mann hatte beim Egoshooten vor keinem waffenstarrenden Gegner
       mehr Angst - aber im richtigen Leben raubte ihm schon der Gedanke an
       spießige Gerichtsvollzieher den Nerv. Wir sehen diese reale Figur in dem
       Dok-Film "Spielzone" von Heide Breitel, den Arte in den Themenabend
       "Verspielte Kindheit" einbettet, zu dem auch Lilly Grotes Film "Stark fürs
       Leben" gehört, der Wege zur Resozialisierung spielsüchtiger Kinder zu
       zeigen versucht. Anlass, sich mal gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen
       bis in die Nacht vor die Glotze zu setzen.
       
       Grote und Breitel machen kein Zeigefingerfernsehen. Dennoch dürfte die
       Nervosität in deutschen Elternhäusern danach weiter wachsen. Denn die
       beiden Filmerinnen zeigen nicht nur in minutenlangen Einstellungen die
       Begeisterung und Banalität der Kids vor dem Monitor. Sie lassen
       Therapeuten, Mediziner und Sozialarbeiter Indizien für etwas vorbringen,
       was im Diskurs über Computerspiele so gerne geleugnet wird: dass Gamen
       süchtig macht. In der Suchtberaterszene heißt der schöne neue Begriff dafür
       "nichtstoffgebundene Süchte".
       
       Interessanterweise decken sich die Szenen aus "Spielzone" und "Stark fürs
       Leben" mit dem Ergebnis des wissenschaftlichen Standardwerks über die
       Gamer-Community, "Grand Theft Childhood", von Lawrence Kutner and Cheryl K.
       Olson. Die Harvard-Medical-School-Forscher zeigen, wie irrsinnig dumm die
       Vorstellung ist, dass alle Teenie-Gamer mit dem Stick zu Killern trainiert
       werden. Die Folgen sind, kurz gesagt, differenzierter und subtiler. Von den
       Kids geht nicht etwa eine Mordsgefahr aus - sie werden ganz einfach
       süchtig. Sie begehen einen großen Diebstahl an ihrer Jugend -
       ironischerweise heißt der (in der taz bejubelte) Megaseller ja auch "Grand
       Theft Auto IV". Und die Kinder reagieren völlig unterschiedlich auf die
       Ballerei im Netz. Beides lässt sich bei Grote und Breitel schön beobachten,
       wenn etwa ein Mädchen von der besessenen Spielerin zu einer reflektierten
       Künstlerin und Kritikerin des Mediums wird.
       
       "Guck mal, wie dick mein Daumen ist." So führt ein Gamer dem Hirnforscher
       Gerald Hüther seinen erstarkten Fingermuskel vor. Er erschrickt ein
       bisschen, als der ihm zeigt, dass ähnliche Verbeulungen bei notorischen
       Spielern im Hirn zu beobachten sind. Das Spielen trainiert eben bestimmte
       Hirnregionen - und lässt andere verkümmern oder, noch schlimmer, sich gar
       nicht erst entwickeln.
       
       Die Stärke des Themenabends ist, dass alle zu Wort kommen, die zur
       verballerten Kindheit etwas zu sagen haben - inklusive der Opfer. Und es
       ist zugleich seine Schwäche. Denn durch die Verspieltheit der Filme und
       ihre Neigung, sich ablenken zu lassen, wird wiederum ihre harte Bilanz
       verwässert: Welche intelligenten Sicherungen gibt es gegen den großen
       Diebstahl vor dem Monitor eigentlich?
       
       Der süchtige Gamer hat seine Methode übrigens gefunden. Er ließ sich erst
       von der Telekom den Anschluss sperren. Dann spielte er drei Wochen trocken
       weiter, also offline auf der CD: "mein Methadonprogramm". Anschließend fuhr
       er zu seinen Eltern und sagte: Helft mir, ich bin süchtig.
       
       3 Jun 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Füller
       
       ## TAGS
       
   DIR Eltern
       
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