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       # taz.de -- Kommentar Solingen: Ein traumatisches Generationserlebnis
       
       > Der Anschlag in Solingen war für viele junge Deutschtürken
       > identitätsbildend- vor allem jene der zweiten Generation, die in
       > Deutschland aufgewachsen sind.
       
   IMG Bild: Vor dem abgebrannten Haus in der Unteren Wernerstraße in Solingen. Hier starben fünf Menschen.
       
       "Parallelgesellschaft" ist einer der Begriffe, ohne den kaum ein Gespräch
       über Integration auskommt. Im Zusammenhang mit dem Brandanschlag von
       Solingen aber, der sich in diesen Tagen zum 15. Mal jährt, hat man dieses
       Wort selten gehört. Und doch: Wenn man diesen Ausdruck benutzen möchte und
       der Soziologe Karl Mannheim recht hat mit seiner These, dass für eine
       Generation nicht nur das Alter identitätsbildend ist, sondern herausragende
       Ereignisse in Kindheit und Jugend, ist Solingen die Chiffre einer
       "Parallelgesellschaft": Was für Deutsche, die heute zwischen 30 und und 40
       Jahre alt sind, der Fall der Mauer bedeutete, waren für gleichaltrige
       Deutschtürken die Morde von Solingen und Mölln.
       
       Für die erste Generation, die nicht selbst eingewandert, sondern hier
       aufgewachsen war; die erste, die mehr als einen Abiturient pro Stadtviertel
       hervorbrachte; die erste, die sich vielleicht nicht als Deutsche, aber eben
       auch nicht als Türken gefühlt hatte, fügten sich die Anschläge in die
       Kausalkette Wiedervereinigung-Asylkampagne-Pogrome ein. Die Erfahrung,
       nicht wirklich anerkannt zu sein, hatten die meisten schon zuvor gemacht.
       Doch erst mit Mölln und Solingen verdichtete sich dieser Eindruck zu einem
       traumatischen Generationserlebnis. Insbesondere die damals gerade
       heranwachsende Elite - oder, um es weniger prätentiös zu sagen: die ersten
       Abiturtürken -, die heute als role model und Mittler zwischen der
       Gesellschaftsmehrheit und den Underdogs fungieren könnten, reagierten mit
       Misstrauen, Distanz, mitunter sogar Abgrenzung, die bis heute nicht ganz
       verschwunden sind. Andererseits profitieren bis heute jene von diesen
       Ereignissen, die ein ideologisches oder geschäftliches Interesse daran
       haben, dass die Türken Türken bleiben.
       
       Wenn man verlangt, dass Einbürgerungswillige wissen, worum es in der
       Paulskirchenversammlung ging, ist es nicht minder geboten, die partikulare
       Geschichte der Einwanderer in die allgemeine Geschichtsschreibung
       aufzunehmen, etwa Straßen und Schulen nach der Familie Genç zu benennen.
       Denn ohne ein gemeinsames historisches Bewusstsein wird man keine
       Parallelgesellschaft überwinden können.
       
       27 May 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
       ## TAGS
       
   DIR Brandanschlag
   DIR Rechtsextremismus
       
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