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       # taz.de -- Mülheimer Theatertage: Verlierer bevorzugt beleuchtet
       
       > Die Komik der Kapitalismuskritik und die Musikalität der Sprache: Acht
       > Inszenierungen neuer Theatertexte mit einem Hang zur Düsternis kamen zu
       > den Mülheimer Theatertagen.
       
   IMG Bild: Dea Loher, für ihr Schauspiel «Das letzte Feuer» mit dem Mülheimer Dramatikerpreis 2008 ausgezeichnet.
       
       Mit der Wucht einer antiken Tragödie lässt Dea Loher in ihrem neuesten
       Theatertext "Das letzte Feuer" die großen Sinn- und Schicksalsfragen lodern
       und bekommt dafür prompt den diesjährigen Mülheimer Dramatikerpreis
       überreicht. Der Unfalltod des achtjährigen Edgar hinterlässt in ihrem Drama
       eine Reihe schuldig-unschuldiger Hinterbliebener und ein Unmaß an Leid,
       Krankheit und Trauer, das nur zu ertragen ist, weil es von Loher in eine
       lyrisch verdichtete Sprache gehoben wird. Ihr mehrstimmiger Choral über das
       Dasein des Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts kam in einer
       Inszenierung des Thalia Theaters Hamburg nach Mülheim.
       
       Lohers "wundtrauriger Totentanz", ihre "große Klarheit" und ihr
       "wunderbarer Sprechrhythmus" ließ denn auch die fünfköpfige Jury ins
       Schwärmen geraten, einstimmig votierten sie für ihr Drama. Zum sechsten Mal
       in Mülheim nominiert und bereits 1998 mit dem Preis ausgezeichnet, gehört
       Loher zur dramatischen Vorhut auf den deutschen Bühnen. Die Mülheimer
       Theatertage sind bekannt dafür, jedes Jahr seismografisch die bedeutsamen
       Entwicklungen der zeitgenössischen Dramatik zu bündeln. Während im letzten
       Jahr die Preisvergabe an das Regiekollektiv Rimini Protokoll für
       diskursiven Zündstoff sorgte, liefert das diesjährige Dramenangebot keine
       konzeptuelle Speerspitze. Lässig und entspannt ist der Umgang mit
       postdramatischen und dramatischen Stilmitteln, das Spektrum reicht vom
       "Well made Play" bis zur bewährten Absage Polleschs an das
       Repräsentationstheater - Hauptsache, dem Stoff ist es zuträglich.
       
       Die "Vehemenz des Pessimismus" (so ein Jurymitglied) von Lohers Stücken ist
       kaum zu überbieten, jedoch kann durchaus eine Tendenz zu düsteren Stücken
       beobachtet werden - insbesondere in der Auseinandersetzung mit
       gesellschaftskritischen Themen, den kleineren und größeren
       Leidensgeschichten des globalen Kapitalismus und seinen Verlierern.
       Erstaunlich tief gehende Bohrungen auf diesem Feld unternimmt der
       dreißigjährige Österreicher Ewald Palmetshofer mit "hamlet ist tot. keine
       schwerkraft". Seine Familienfarce durchwirkt eine beschädigte Sprache von
       auf der Stelle tretenden Dialogbahnen und bleischweren Monologmassiven,
       welche nach und nach die gewaltvollen Verstrickungen der Familienmitglieder
       freilegt. Zugleich fließen theologische und philosophische Reflexionen in
       den Text ein, mit denen Palmetshofer die Situation des schwerelos
       kreiselnden Menschen "im globalen Rechnungswesen der Gegenwart" auf den
       Punkt bringt.
       
       Auch Fritz Kater fächert mit "Heaven (zu tristan)" ein facettenreiches
       Soziogramm der Restbewohner einer verdorrenden Oststadt auf und zeigt die
       Veränderungen unserer Lebenswelt unter globalisierten Bedingungen. Doch
       seine randvoll mit historischen Assoziationen aufgeladenen Figuren konnten
       die Jury nicht restlos überzeugen. Kapitalismuskritisch komisch wird es bei
       dem ebenfalls 30-jährigen Philipp Löhle mit "Genannt Gospodin". Der
       konsequente Versuch seines verschroben sympathischen Außenseiters Gospodin,
       aus der Gesellschaft auszusteigen, gestaltet sich schwieriger als gedacht -
       geschickt entfaltet Löhle eine multiperspektivische Versuchsanordnung, die
       vielleicht ein wenig zu glatt durchdekliniert wird.
       
       Von den bekannten Protagonisten führen René Pollesch und sein Team einmal
       mehr ihre Analyse der Produktionsverhältnisse als radikale
       Selbstbefragungen mit anarchischer Ausgelassenheit durch. In seinem
       Festivalbeitrag "Liebe ist kälter als das Kapital" will eine Schauspielerin
       sich nicht mehr in ihrer Filmrolle ohrfeigen lassen, und schon explodieren
       die Fragen danach, wo "unser Leben" anfängt und wo "die Wirklichkeit".
       Wurde Pollesch hier die Selbstbezüglichkeit seines Theaterthemas
       vorgeworfen, so muss man ihm doch zugute halten, dass er unermüdlich einen
       symbolischen Kampf um die Bilder und die Sprache führt, die uns bestimmen.
       
       Auffällig in der zeitgenössischen Dramatik ist eine musikalische Dimension
       der Sprache, die viele sinnliche Umsetzungen entstehen ließ. Theresia
       Walser und Erstautorin Laura de Weck legten Musikalität und "Sprachsound"
       anhand realer Situationen und Milieus frei. Doch genau dies kritisierte die
       Jury. Walsers Zugstück "Morgen in Katar" bleibe in einer statisch
       realistischen Grundsituation stecken, während de Wecks "Lieblingsmenschen"
       eine Milieugenauigkeit behaupte, die es nicht einlöse. Breite Begeisterung
       entfachte hingegen Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer" zum Thema
       Kindesmisshandlung. Gekonnt lauscht Zeller hier den Menschen die
       Alltagssprache ab, leitet sie durchs hauseigene Tonstudio und lässt sie
       wie- der auf die Welt zurückprallen. Ihre hyperventilierende Tirade dreier
       "Jugendamtssozialarbeiterinnen" belegt, dass man auch mit artifiziell
       komponierten Textflächen den heutigen Menschen im Kern treffen kann. Nur
       knapp rutschte sie damit am Dramatikerpreis vorbei, konnte aber immerhin
       die Ehre des undotierten Publikumspreises einstreichen.
       
       27 May 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Bloch
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater Bremen
   DIR Theater
       
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