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       # taz.de -- Porträt: Sehen lernen - mit den Händen
       
       > Die achtjährige Aleksandra ist von Geburt an taubblind. Dank mehrerer
       > Spenden konnte das polnische Mädchen jetzt erstmals im Potsdamer
       > Oberlinhaus untersucht werden.
       
   IMG Bild: Lange Tradition: Eine hör-/sehbehinderte Frau 2005 im Oberlinhaus
       
       Aleksandra steht am geöffneten Fenster, das Gesicht dem Wind zugewandt. Lau
       weht er von der Straße herein. Ihren quietschgelben Kunststoffbären presst
       sie fest an Mund und Kinn. "Der Bär vermittelt ihr Sicherheit und
       verhindert teilweise, dass sie sich mit harten Schlägen selbst im Gesicht
       verletzt", erklärt die Psychologin Katherine Biesecke, Leiterin des
       Oberlin-Kompetenzzentrums für Taubblinde in Potsdam. Plötzlich löst
       Aleksandra langsam eine Hand und streckt sie aus. Vorsichtig berühren die
       Fingerspitzen den hölzernen Fensterrahmen, an dem grau schillernde
       Spinnenweben hängen. Ob Aleksandra sie fühlen kann? "Blinde können mit den
       Händen sehen", murmelt Biesecke sichtlich ergriffen. Die Geste ist für
       Aleksandra und die Mitarbeiter des Oberlinhauses ein riesiger Erfolg.
       Bisher hat Aleksandra nicht gelernt, ihre Hände zu nutzen - obwohl das
       Ertasten eine der wichtigsten Möglichkeiten für sie zur räumlichen
       Orientierung ist.
       
       Die Achtjährige ist von Geburt an blind. Sie kam bereits in der 24.
       Schwangerschaftswoche zur Welt, mit einem Gewicht von nur 650 Gramm. Das
       extrem kleine Frühgeborene musste wegen der unreifen Lunge künstlich
       beatmet werden. Die Schädigung der Augen - in der Fachsprache
       Frühgeborenen-Retinopathie - ist eine Folge der künstlichen Beatmung. Durch
       den hohen Sauerstoffdruck wurde die Netzhaut geschädigt, was zur Erblindung
       führte. Erst seit drei Jahren steht fest, dass auch Aleksandras Hörvermögen
       sehr stark eingeschränkt ist. Bis dahin glaubten die behandelnden Ärzte,
       das Mädchen sei geistig behindert - weil es nicht sprechen lernte.
       
       Vielleicht wird das Mädchen auch zu Hause, in einem Dorf nahe der
       polnischen Stadt Szczecinski, das einstige Stargard, die Hände nutzen, um
       neue Erfahrungen zu sammeln. Das hängt vor allem von seiner Oma ab.
       Miroslawa Kluska ist Aleksandras wichtigste Bezugsperson, seit mehr als
       sieben Jahren. "Die Mutter hat ihr Kind verlassen", erzählt die 56-Jährige
       auf die Frage nach den Eltern. Aleksandras Vater wohnt in einer anderen
       Stadt, kommt aber gelegentlich zu Besuch. "Ihre Mutter hat den Kontakt
       völlig abgebrochen. Seitdem kümmere ich mich, so gut ich kann."
       
       Die Bindung zwischen Oma und Enkelin ist eng. Das hat Aleksandras
       Persönlichkeit einerseits sehr stark gemacht, betonen die
       Oberlinhaus-Experten. Andererseits nahm ihr die Großmutter aus Fürsorge
       aber auch viel zu viel ab, etwa das Essen und das An- und Ausziehen. Um
       Aleksandra jedoch zu ihrem eigenen Wohl zu fördern und zu fordern, muss die
       Oma sie diese Alltagshandlungen künftig verstärkt allein machen lassen.
       Oder ihr zumindest die Chance einräumen, es zu versuchen. Nur so kann sich
       Aleksandra im Rahmen ihrer Fähigkeiten entwickeln.
       
       Doch, so Miroslawa Kluska: "Was wird werden, wenn ich mich nicht mehr um
       das Mädchen kümmern kann?" Diese Sorge war im vergangenen Sommer das
       auslösende Moment für die Großmutter, für sich und ihre "Ola", wie sie
       Aleksandra nennt, um Hilfe zu bitten. Der Zusammenarbeit des Fördervereins
       PoDeSt im nordbrandenburgischen Schwedt, des Oberlinhauses und eines
       privaten Spenders aus Potsdam ist es nun zu verdanken, dass die Achtjährige
       mit ihrer Großmutter im März im Potsdamer Kompetenzzentrum für Taubblinde
       erstmals umfassend untersucht werden konnte. Aleksandra besuchte die
       Oberlin-Taubblindenschule, bekam Unterstützung von einer Esstherapeutin
       sowie mehrere physio- und musiktherapeutische Fördereinheiten. Und sie
       bekam neue, vom deutsch-polnischen Förderverein PoDeSt gespendete
       Hörgeräte.
       
       Doch das Ergebnis der Untersuchungen war ernüchternd: Aleksandras Welt wird
       auch künftig eine ohne Licht und fast ohne Laute sein. Nur mit sehr guten
       Hörgeräten und gezielter Förderung wird es möglich sein, dem Kind die
       verbliebene Hörkraft zu erhalten. Und: Aleksandra kann nur dann sinnvoll
       gefördert werden, wenn die Großmutter und die Familie ihre Behinderung voll
       und ganz akzeptieren.
       
       "Das Gebot der Nächstenliebe ist schon in langer Tradition die
       Ausgangsbasis unserer Hilfsangebote. Das Leben jedes Menschen entfaltet
       sich in seiner persönlichen Eigenart und hat seinen Wert", sagt Wiebke
       Zielinski, die Sprecherin des Diakonischen Vereins. Das fachliche Wissen
       beruht auf Erfahrungen aus langjähriger Arbeit mit taubblinden Menschen und
       deren Angehörigen.
       
       Denn das Oberlinhaus gilt als Wiege der Taubblindenarbeit in Deutschland:
       1887 wurde mit der zehnjährigen Hertha Schulz der erste taubblinde Mensch
       aufgenommen. Hier eröffnete 1906 das erste Taubblindenheim. Heute liegen
       die Schwerpunkte des Kompetenzzentrums vor allem im Aufbau von
       Kommunikationsmöglichkeiten für die Betroffenen. Es wird mit Methoden der
       Gebärdensprache, dem Tastalphabet, der Blindenschrift und der Lautsprache
       gearbeitet. Darüber hinaus werden die Fähigkeiten der Taubblinden zur
       zeitlichen und räumlichen Orientierung gefördert.
       
       Miroslawa Kluska muss sich nun den medizinischen Befunden stellen. Das
       heißt für sie vor allem Abschiednehmen von Hoffnungen. Deshalb stand man
       der Großmutter im Oberlinhaus auch intensiv pädagogisch und psychologisch
       zur Seite. "Die Welt besteht nun mal aus Hindernissen. Wenn sie immer
       weggeräumt werden, lernt man nicht, ihnen zu begegnen", sagt Biesecke.
       Diese Feststellung betrifft Aleksandra und ihre Großmutter. Hauptziel jeder
       Form von Förderung wird es sein, so Biesecke, dem taubblinden Kind
       weitestgehende Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft
       zu ermöglichen. Dazu gehöre vor allem, Wege aus der Isolation aufzuzeigen.
       Das ist wie die Suche nach einer Brücke durch die Finsternis in eine
       wortlose Welt.
       
       Freude, Erfolg und Wohlbefinden sind bewährte Mittel gegen die Einsamkeit.
       So entsteht Kontakt zur Umwelt. Aleksandra tanzt im Musiktherapieraum. Die
       geschlossenen Augen verleihen ihrem schmalen Gesicht einen Zug
       Verträumtheit. Es scheint, als spräche aus ihr Selbstvergessenheit, aber
       ihr zarter Körper drückt eine überraschende Präsenz im Hier und Jetzt aus.
       Die sorgfältig geflochtenen Zöpfe wippen bei jeder Bewegung frech hin und
       her. Tastend schieben sich Aleksandras grün bestrumpfte Füße über den
       Holzboden, der sie die Musik als Vibrationen spüren lässt. Die Achtjährige
       erspürt die Impulse. Kurz erfüllt Aleksandras gurrendes Kinderlachen den
       Raum, schiebt für wenige Augenblicke den bleiernen Riegel zwischen den
       Welten beiseite.
       
       "Aleksandra lebt ohne oder mit sehr eingeschränkter Vorstellung ihrer
       näheren und ferneren Umgebung", verdeutlicht Biesecke. Trotzdem hat das
       Mädchen aufgrund ihres ausgeprägten Selbstvertrauens den Mut, ihr Umfeld zu
       erkunden. Auch wenn es nur der Raum ihrer Armlänge ist. Man meint, förmlich
       zu spüren, wie sehr sie teilen und teilhaben möchte. Ihre
       Aufgeschlossenheit ist umso erstaunlicher, als Aleksandra in den
       zurückliegenden Jahren kaum gefördert worden ist.
       
       Während Oma und Enkelin die Koffer packen, wird zur weiteren Unterstützung
       von Aleksandras Therapie eine Benefizlesung geplant. Nicht im Traum habe
       sie sich vorstellen können, wie gut taubblinde Kinder zurecht kommen
       können, sagt Miroslawa Kluska zum Abschied. "Hier habe ich zum ersten Mal
       gesehen, was Behinderte wie Aleksandra alles können. Ich fahre mit meiner
       Ola nach Hause und werde mit ihr arbeiten. Vor allem daran, dass sie weiter
       ihre Hände benutzt." Denn jetzt weiß sie endlich, dass sie für Aleksandra
       das Tor zur Welt bedeuten.
       
       26 May 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Hempel
       
       ## TAGS
       
   DIR Behinderung
       
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