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       # taz.de -- Und die Stadt bewegt sich ...: Fiebern für die Young Boys
       
       > Berner sind Lokalpatrioten. Deshalb ist in der Schweizer Hauptstadt der
       > örtliche Fußballverein allemal wichtiger als die Europameisterschaft.
       
   IMG Bild: Baden im Aare-Freibad Marzili
       
       Nun sind sie wieder da. Wie immer, wenn etwas kultig wird. Sie strömen in
       Scharen ins Stade de Suisse, kaufen sich Schals und Shirts, trinken Bier
       und fachsimplen. Tausendfach. Die Eventritter, die Mitläufer, wenn etwas
       angesagt ist. Seit die erste Mannschaft des Berner Fußballklubs Young Boys
       (YB) mit dem Meistertitel liebäugelte, zählt das Stadion 18.000 Zuschauer
       pro Spiel. „YB macht glücklich“ - auch wenn es mit der Meisterschaft nichts
       wurde. Seit 22 Jahren warten die Young Boys darauf, als helvetischer
       Meister zu glänzen. Das Fahnenmeer im Stadion weht tiefgelbschwarz, und
       jüngst haben über zwei Drittel der Befragten gegenüber der Berner Zeitung
       geantwortet, der Stadtklub sei ihnen wichtiger als die Euro 2008. Das
       stimmt: In Bern braucht alles seine Zeit, auch die „Europhorie“. Zwar waren
       Freude und Stolz unbestritten, als die Stadt zur Hostcity für das
       Fußballspektakel berufen wurde. Als einziger Austragungsort aber stimmte
       Bern über die Euro 2008 ab; und nur knapp genehmigte das Stimmvolk einen
       Kredit für die Durchführung der Spiele.
       
       Glaubt man jedoch den Werbern und Organisatoren, können die Bernerinnen und
       Berner die Europameisterschaft kaum erwarten. „Cant wait for Uefa Euro 08“
       empfängt ein Plakat in den Farben der Schweizerfahne die Zugreisenden bei
       der Einfahrt in den Hauptbahnhof. Über den Gleisen, in der Bahnhofshalle,
       in den Gassen und unter Berns weltberühmten Sandsteinarkaden wehen Fahnen
       mit dem Euro-08-Logo. Auf Plakaten jubeln Fußballfans. Die Schaufenster
       füllen sich mit Fanartikeln. Nicht nur Kioske, Kaufhäuser, Kneipen
       verkaufen Paninibilder. Selbst der Bäcker bietet Fußballer feil - fünf
       Bilder ein Franken. Für die Schweiz, das weltweit tüchtigste Land im
       Paninibildersammeln, hat das Unternehmen gar eine eigene Auflage lanciert,
       mit noch mehr Klebebildern. Die Berner tauschen die Paninis, als sei die
       Stadt ein großer Schulhof. Durch die Straßen kurvt das Motto „Bern wirkt
       Wunder“, in großen Lettern klebt es auf der knallroten Straßenbahn.
       
       Die „Europhorie“ wird in Bern von außen gefüttert. Doch sind die
       Bernerinnen und Berner überhaupt Euro-hungrig? Sicher - die Mehrheit der
       Bevölkerung fährt im Juni nicht in den Urlaub. Doch für die Berner kommt
       die eigene Stadt vor Europa - auch wenn die Young Boys gerade gegen den FC
       Basel verloren haben, das Bayern München der Schweiz. Nun bleibt Muße für
       das drittgrößte Sportfest der Welt, und nun gibt es auch Platz für die
       Holländer, die in Bern die Gruppenspiele bestreiten.
       
       Eine andere, große Liebe könnte den Fußballstars Konkurrenz machen: die
       Aare. Wer in die Schweizer Hauptstadt reist, wird als erstes von ihr
       empfangen. In ewiger Treue umarmt der Fluss die mittelalterliche Altstadt.
       Aus den nahen Alpen schlängelt er sich durchs Mittelland und ist wohl der
       weltweit sauberste Fluss, der durch eine Landeshauptstadt fließt. Schimmert
       er petrolgrün und ist über 20 Grad warm, frönen die Berner ihrem liebsten
       Hobby, dem Aareschwimmen. Hunderte Menschen spazieren an heißen Sommertagen
       am Ufer entlang, springen rein, johlen unter den Brücken - auf dass ihr
       Echo erklingt. Und als seien sie gleich hinter dem Berner Münster
       aufgeklebt, entlockt das berühmte Bergtrio Eiger, Mönch und Jungfrau den
       vielen Touristen ein „Ah“ und „Oh“. Bern - gemütlich-putzige Hauptstadt mit
       einem der beliebtesten Dialekte der Schweiz. Das sagen die einen. Die
       anderen ziehen die Samthandschuhe aus: „Bern ist die nebensächlichste
       Hauptstadt der Welt“ oder „Bern ist keine Stadt, sondern ein Zustand“,
       schrieben exilbernerische Journalisten und sorgten für erboste
       Leserbriefseiten in den Lokalblättern.
       
       In den letzten Monaten musste sich Bern sogar europaweit behaupten. Nach
       den Ausschreitungen im Vorfeld der nationalen Wahlen letzten Herbst
       polterten die Zeitungen, ärgerten sich Bürgerliche: Chaoten würden in Bern
       leben, die Stadt sei dreckig, die rot-grüne Regierung habe ihre Schäfchen
       nicht im Griff. Der Ausdruck „Bern-Bashing“ hallte durch das Land.
       
       Aber jetzt will die Stadt ihr schönstes Sommerkleidchen aus dem verstaubten
       Schrank nehmen und der Welt zeigen: Bern bewegt sich doch. Der
       Touristenmagnet „Bärengraben“ wird bis zum nächsten Jahr durch einen
       artgerechten Park ersetzt. Bern befreit damit nach 150 Jahren endlich seine
       Stadttiere aus dem runden tiefen, öden Loch. Und im Westen der Stadt
       entsteht ein neuer Stadtteil, inklusive Freizeit- und Einkaufstempel des
       Stararchitekten Daniel Libeskind.
       
       Auch für die Euro 2008 ist Bern ein bisschen gerüstet. Eine Uhr in der
       Innenstadt zählt rückwärts bis zum Startschuss am 7. Juni. Vor dem Bahnhof
       malochen die Bauarbeiter. Bis zu den Spielen soll der komplett sanierte
       Bahnhofsplatz neue Visitenkarte werden: Gegenwärtig werden die letzten
       Glasscheiben auf einen imposanten und ach so modernen Baldachin geschraubt.
       Für Juni sucht man vergebens ein freies Zimmer in den Hotels der
       Innenstadt. Auch der Campingplatz an der Aare ist längst ausgebucht. Nun
       engagieren sich Private und die Peripherie. Berner vermieten ihre Zimmer.
       In rustikal-ländlicher Gegend einige Kilometer außerhalb von Bern werden
       zwei Fancamps errichtet.
       
       Einzig vor dem Stade de Suisse in Berns Norden steht die Zeit still. Das
       Stadion ersetzte 2005 das altehrwürdige Wankdorf-Stadion, hinter dessen
       Tribünen sich „das Wunder von Bern“ ereignete. Das Stadion wurde vor sieben
       Jahren gesprengt, lediglich der Name und die Uhr überlebten: Das riesige
       Zifferblatt zeigt exakt die Minutenzeit, in der sich Deutschland 1954 mit
       dem 3:2 gegen Ungarn zum Weltmeistertitel schoss.
       
       Fünf Jahrzehnte später trieft unter der Uhr das Fett einer YB-Wurst auf den
       Boden. Eine Gruppe Jugendlicher in Gelbschwarz stößt auf den Feierabend und
       das kommende YB-Spiel an. Um sie herum tausende glückliche Bernerinnen und
       Berner. Dank des Erfolgs der Young Boys ist die Schweizer Hauptstadt in den
       letzten Monaten zur Fußballstadt erwacht - nun auch für die Euro 2008.
       
       22 May 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Samira Zingaro
       
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   DIR Reiseland Schweiz
       
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