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       # taz.de -- Kolumne Einen Versuch legen: Im Reich der Fantasie
       
       > Über das nervenaufreibende Spiel mit der Statistik und Basketballprofi
       > Brandon Roy, der leider verkauft werden musste.
       
   IMG Bild: Geschafft: die Spielerinnen von Meister Minnesota Lynx feiern sich und den Titel.
       
       Brandon Roy spielt eine fantastische Saison. Der Guard der Portland Trail
       Blazers erzielt im Schnitt 20 Punkte, 5 Rebounds und 6 Assists pro Spiel.
       Obwohl erst im zweiten Jahr in der NBA, ist Roy Führungsspieler, All-Star
       und die Hoffnung von ganz Oregon. John Hollinger, Basketballstatistiker
       beim amerikanischen Sportsender ESPN, führt Roy als sechstbesten Shooting
       Guard in der Liga - und damit vor Legenden wie Tracy McGrady und Vince
       Carter. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, Brandon Roy zu verkaufen.
       
       Für mein Fantasyteam Centipede hat Roy vier Monate lang einwandfreie
       Statistiken geliefert. Der Erfolg beim Fantasy-Basketball hat nichts damit
       zu tun, ob die echten Teams verlieren oder gewinnen. Stattdessen dreht sich
       im Fantasy-Sport alles um die Statistiken der Spieler. Im Standardformat
       zählen neun Kategorien: Punkte und Rebounds, Assists, Dreipunkttreffer,
       Steals, Blocks und Turnover sowie die Wurfquote vom Feld und beim Freiwurf.
       Nur wer in keiner Kategorie Schwächen hat, wird zum Fantasystar.
       
       Fantasy-Sport ist die große Schattenwelt des amerikanischen Profisports.
       Jede Saison tragen tausende Statistikfans aus aller Welt einen monatelangen
       Nervenkrieg aus. Erfolg in der Fantasy-Welt verlangt harte Arbeit,
       Strategie, Antizipation und Glück. Es gibt 30 NBA-Teams, jedes Team hat bis
       zu 15 Spieler im Kader und absolviert 82 Spiele pro Saison, insgesamt pro
       Kategorie 36.900 Zahlen, die ich im Auge behalten muss. Fast ein halbes
       Jahr lang, von Ende Oktober bis Mitte April, kontrolliere ich jeden Morgen
       die Statistiken der letzten Nacht, überprüfe meine Mannschaften und lese
       ein paar Dutzend Fantasy-Blogs. Ich kenne die Körper von ein paar hundert
       Topathleten besser als meinen eigenen. ONeal hat eine schwache Hüfte, Ford
       einen wackligen Hals und Atkins eine weiche Leiste. Verstauchte Knöchel,
       Drogenskandale, Vertragsklauseln, missgelaunte Trainer, Tauschgeschäfte der
       Clubs, Todesfall in der Familie, irgendeiner Familie - jede Kleinigkeit
       kann einem die Wochenbilanz versauen.
       
       Mittlerweile leisten sich alle großen Sportwebsites eigene
       Fantasy-Abteilungen: ESPN, NBA.com, CBS, Yahoo, alle. Die Gurus der Szene,
       Brandon Funston von Yahoo zum Beispiel oder Rick Kamla von NBA-TV, werden
       dafür bezahlt, jeden Tag in ihren Analysen die kritischen Fragen zu
       beleuchten. Wird Erick Dampier, Center der Dallas Mavericks, sich deutlich
       verbessern, weil ihn der gerade per Megatrade erworbene Jason Kidd besser
       in Szene zu setzen versteht? (Ja.) Wird sich in Memphis endlich einer der
       drei jungen Spielmacher durchsetzen? (Nein.) Trifft Larry Hughes besser,
       jetzt, wo er nicht mehr im Schatten von LeBron James, sondern in Chicago
       spielt? (Vorsichtiges Ja.)
       
       Ende Februar kam dann der Tag, an dem ich Brandon Roy verkaufte. Und zwar
       für Kevin Martin, den oft unterschätzten, schmalen Scorer aus Sacramento.
       Zu diesem Zeitpunkt lagen beide etwa gleich im Ranking, der eine lieferte
       mehr Assists, der andere mehr Dreier. Aber Sacramento spielt in den drei
       letzten, entscheidenden Wochen der Saison einmal mehr als Portland, ein
       winziger Wettbewerbsvorteil, der die Meisterschaft entscheiden kann. Vor
       zwei Jahren schied mein Team Cockroach nach hartem Kampf im Halbfinale aus,
       nur wegen zwei fehlender Rebounds. Das wird mir nicht noch mal passieren.
       
       Manchmal würde ich gern freinehmen vom Fantasy-Stress. Aber jedes Mal, wenn
       ich ein, zwei Tage nicht am Ball bin, verliere ich deutlich an Boden. Nach
       einer Woche Passivität sehen meine Mannschaften so desolat aus wie die New
       York Knicks. Und die anderen schlafen nicht. Kaum erfahre ich einen Tag zu
       spät von der Verletzung von Ron Artest, schon wird John Salmons, sein
       Ersatzmann, zu einem Top-Twenty-Spieler - leider bei einem Konkurrenten.
       Alle sitzen gebannt vor den Geräten und warten auf Neuigkeiten.
       
       Am 24. Februar, genau einen Tag nachdem ich ihn verkauft habe, verlässt
       Brandon Roy im dritten Viertel des Spiels gegen die Celtics mit
       schmerzverzerrtem Gesicht das Parkett und kehrt nicht zurück. Eine schwere
       Knöchelverstauchung lautet die Diagnose, Kernspintomografie zwar negativ,
       aber Roy setzt in der folgenden Woche zwei Spiele aus. Während mein
       Konkurrent dank Brandons Knöchel in der Wochenwertung einbüßt, gewinne ich
       mit Kevin sofort alle neun Kategorien. Noch drei Wochen bis zur
       Entscheidung. Centipede ist wieder im Rennen.
       
       20 Mar 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aleks Scholz
       
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