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       # taz.de -- Jenny Erpenbecks Roman "Heimsuchung": Zwischen Streben und Ausgeliefertsein
       
       > Jenny Erpenbeck ist die Favoritin für den Preis der Leipziger Buchmesse.
       > Ihr Roman "Heimsuchung" erzählt die Geschichte des vergangenen
       > Jahrhunderts anhand eines Ferienhauses.
       
   IMG Bild: Ein Hauch von deutscher Romantik liegt über Erpenbecks poetischem Existenzialismus.
       
       Um einen Roman zu schreiben, der ein ganzes Jahrhundert umfasst, würden
       andere Autoren an die tausend Seiten brauchen. Jenny Erpenbeck bleibt
       locker unter zweihundert. Als Titel für ihren Jahrhundertroman genügt ihr
       genau ein Wort. Dieses Wort aber schillert bereits so seltsam, zeigt es
       doch zwei gegensätzliche Richtungen der Bewegung an. In seine beiden
       Teilworte zerlegt, kann "Heim-suchung" einerseits ein aktives Streben
       implizieren, an Menschen denken lassen, die sich ein Zuhause schaffen. Auch
       davon handelt der Roman, immer wieder.
       
       Es ist ein Haus am See in märkischer Landschaft, an dem der Roman die
       Personen umkreist, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte auf diesem Flecken Erde
       ihr Zuhause aufschlagen. Doch dies ist nur die zweite, schon willentlich
       konstruierte semantische Ebene des Begriffs "Heimsuchung", der in seiner
       primären Bedeutung ja vom genauen Gegenteil des aktiven Suchens handelt,
       nämlich davon, wie Menschen gegen ihren Willen eingeholt werden von einer
       Außenwelt, die in ihren privaten Raum einbricht und dies durchaus nicht in
       freundlicher Absicht tut. Eine "Heimsuchung" ist eine schicksalhafte
       Bedrohung, der man schutzlos ausgeliefert ist, eine Urgewalt, der nichts
       entgegengesetzt werden kann. Und auch dies ist das Thema dieses nur
       äußerlich schmalen Romans; das Geworfensein des Menschen in die Welt.
       
       Bereits der Titel enthält das große existenzielle Spannungsfeld zwischen
       individuellem Streben und schicksalhaftem Ausgeliefertsein. In seiner
       semantischen Mehrschichtigkeit zeigt er zugleich exemplarisch, was
       Erpenbeck als Prosa-Autorin so heraushebt: eine poetische Genauigkeit und
       doch Offenheit der Sprache, die bewirkt, dass sich jedem einzelnen Wort
       hinterherlauschen lässt, als enthalte es eine ganze Welt. Folgen viele
       solcher Worte aufeinander, entsteht etwas, das am ehesten als eine Art
       assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes
       Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist.
       Lese-Musik im Kopf. Das ist ein seltenes Erlebnis, vielleicht sogar ein
       echtes Wunder. Und so berührt dieser Roman rein sprachlich auf eine so
       intime Art, dass die Unbedingtheit, ja Unerbittlichkeit, mit der er seinen
       existenzialistischen Grundton hält, dadurch gewissermaßen ausgeglichen
       wird.
       
       Ein Hauch von deutscher Romantik liegt über Erpenbecks poetischem
       Existenzialismus. Dessen Bühne ist die deutsche Geschichte des letzten
       Jahrhunderts, eingefangen in einem einfachen Symbol: Haus mit Garten. Das
       Haus steht an einem See, unter Bäumen, vor allem natürlich einer großen
       Eiche, irgendwo in eiszeitlich geprägter märkischer Hügellandschaft. Auch
       Letzteres ist wichtig, denn das Buch beginnt allen Ernstes in der Eiszeit
       und vergegenwärtigt das Entstehen der Landschaft vor (mit Erpenbeckscher
       Präzision) vierundzwanzigtausend Jahren. Erst dann werden nach und nach das
       Haus und seine Bewohner vorgestellt. Der letzte Satz wird wieder lauten:
       "Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut wird, gleicht die
       Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst", was sehr trocken
       die Bedeutungslosigkeit menschlichen Strebens umreißt.
       
       Wie zum Trotz, oder auch gerade deswegen, lesen sich die einzelnen
       Schicksale, die Jenny Erpenbeck in ihrer eigenwillig-brüchigen Chronik, in
       zeitlich mal vor-, mal nacheinander zu verortenden Geschichtssplittern
       poetisch vergegenwärtigt, wie besonders kostbare Preziosen. Das Erscheinen
       der Menschen ist flüchtig, doch auch die kleinsten ihrer alltäglichen
       Handlungen haben in dem Moment, da sie geschehen, ihr Gewicht, werden durch
       sorgfältig detaillierte Beschreibungen zu beziehungs- und bedeutungsreicher
       Aktivität.
       
       Als der Erbauer und erste Besitzer des Hauses, ein Architekt, zum ersten
       Mal ins Bild tritt, tut er dies allerdings mit einer wenig alltäglichen
       Handlung. Wir begegnen ihm, als er sich anschickt, das Haus für immer zu
       verlassen, um in den Westen auszureisen. Vorher aber vergräbt er die
       wertvolleren Teile seines Hausrats im Garten. Im weiteren Verlauf des
       Buches werden diese Dinge nach und nach wieder zutage treten; und auch
       Erpenbecks Verfahren gleicht sehr dem Bergen dieser vergrabenen Schätze.
       Hier findet sich eine Kiste Silberbesteck, dort eine Reihe Zinnkrüge. Sie
       werden von Erde befreit, gereinigt, sorgsam zu facettenreichem Glanz
       gebracht und zur genauen Betrachtung dargeboten: Menschen und ihr Leben.
       Alles Einzelstücke.
       
       Da gibt es den Dorfschulzen, der das Seegrundstück zu Beginn des 20.
       Jahrhunderts besessen hatte, und seine leicht verrückte jüngste Tochter,
       die das Grundstück hätte erben sollen, doch vorher entmündigt wird und sich
       umbringt, als der Vater es verkauft. Es folgen der Architekt, der sein
       Talent nacheinander in den Dienst dreier sehr unterschiedlicher deutscher
       Regierungen stellen wird, und seine Frau, die allein im Wandschrank
       versteckt ist, als die Russen kommen.
       
       Auch die Familie des jüdischen Tuchfabrikanten, Besitzer des
       Nachbargrundstücks mit darauf befindlichem Badehäuschen, das der Architekt
       sich in den Dreißigerjahren für die Hälfte des Verkehrswertes unter den
       Nagel reißt, bekommen wir vorgestellt. Es ist zu lesen, wie das Mädchen
       Doris, eine Enkelin des Fabrikanten, im KZ ermordet wird.
       
       Dies ist eine zentrale Passage des Buches und eine der wenigen Szenen, in
       denen das vertraute Seegrundstück verlassen wird. Sie folgt auf einen
       vorbereitenden Abschnitt, der in Südafrika spielt, wo Doris Onkel im Exil
       lebt, und der bereits erhöhte Wachsamkeit beim Lesen verlangt. Denn erst im
       Laufe dieser Passage wird allmählich klar, dass der geografische Standort
       nicht mehr derselbe ist, sondern die zeitliche und die räumliche
       Perspektive permanent wechseln, dass Erinnerungen an Deutschland überlagert
       werden von afrikanischer Realität und umgekehrt.
       
       Das ist recht befremdlich. Man ist gewarnt, ist schon gründlich aus dem
       Lesefluss gebracht. Und doch kommt die Passage über den stillen Widerstand
       und das Sterben des Mädchens Doris wie ein Schock. Das Schicksal der
       kleinen Doris, vom Umfang her nicht mehr als eine Episode, fällt deutlich
       aus dem Rahmen. Die Autorin gestattet ihrer Erzählung hier, sehr nah
       heranzukommen an die Figur, stellt ihren lyrischen Ton ganz in den Dienst
       auch der kleinsten Wahrnehmungen des dem Tod geweihten Kindes. Die
       Doris-Perspektive verliert niemals die Bodenhaftung, hält sich bis zum
       Schluss erinnernd fest an jenem kleinen Paradies am See. Das kann das
       Mädchen nicht retten, aber es kann sie bis in den Tod begleiten. Man muss
       das wohl für einen Trost halten. Wer es ablehnt, sich beim Lesen
       erschüttern zu lassen, mag es ruhig kitschig nennen.
       
       Ab hier, auch rückwirkend für alles vorher Gelesene, wird das Schicksal der
       ermordeten Doris zum Bezugspunkt, der erst so recht deutlich macht, wie
       sehr die Existenz und das Überleben aller anderen Personen zufällig sind.
       Die meisten von ihnen, wenngleich durchaus als Individuen porträtiert,
       treten denn auch eher als überindividuelle Figuren auf. Der exemplarische
       Charakter ihrer Lebensläufe spiegelt sich in ihrer Anonymität, denn zumeist
       erhalten sie keine Namen, sondern sind "der Architekt", "die Frau des
       Architekten", "die Hausherrin", "die Besucherin". Und dann gibt es noch den
       "Gärtner", mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Über ihn heißt es nur:
       "Woher er gekommen ist, weiß im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon
       da." Als einzige Figur durchlebt er das Buch von Anfang bis Ende, ohne dass
       man jemals erführe, was er denken mag oder wie alt er ist.
       
       Lediglich seine Taten ("Bis auf eine Tiefe von 80 Zentimetern hebt der
       Gärtner die Pflanzlöcher aus und füllt Komposterde ein, damit die Obstbäume
       gut gedeihen") werden minutiös geschildert. Am Schluss des Romans müsste er
       uralt sein, falls der "Gärtner" überhaupt von Anfang bis Ende dieselbe
       Person ist. Ja, falls das überhaupt eine Rolle spielt. Wie ein guter Geist,
       oder wie eine unerkannte, stumme Gottheit, tut dieser Gärtner nichts
       anderes, als über Generationen hinweg die Natur für die Menschen zu einem
       Garten zu zivilisieren. Als Schöpfer eines kleinen Paradieses verschwindet
       er mit dessen Ende.
       
       Das Haus altert im Unterschied zum stets wandelbaren Garten wie ein Mensch.
       Wenn die letzte "Hausherrin" genannte Person das Haus einer gründlichen,
       heimlichen Reinigung unterzieht, bevor es an Investoren verkauft wird,
       gleicht das einer rituellen Totenwaschung. Die letzte Heimsuchung des
       Romans, der Abriss, befällt das Haus selbst, das für niemanden mehr ein
       Heim sein wird.
       
       Dieses Ende ist traurig und offen zugleich. Etwas ist unwiderruflich
       vorüber. Doch jedes Ende, so zeigt der Gärtner in seinem nimmermüden
       Wirken, birgt auch den Anfang von etwas Neuem. Dass man sich den Gärtner
       als einen glücklichen Menschen vorstellen muss, versteht sich von selbst.
       Und wer kein Gärtner ist, kann doch immerhin wieder von vorne zu lesen
       beginnen.
       
       7 Mar 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Granzin
       
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   DIR Jenny Erpenbeck
   DIR Jenny Erpenbeck
       
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       Für ihren Roman „Kairos“ bekommt Jenny Erpenbeck als erste Deutsche den
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