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       # taz.de -- Anreise mit Motor-Rikscha: Auf Tuchfühlung mit Indien
       
       > Ein Dorf in Kerala bietet Touristen unmittelbare Einblicke: Ein Versuch,
       > den Tourismus nachhaltig zu gestalten und die Dorfstruktur zu stärken.
       
   IMG Bild: Proben zum Auftritt der Elefanten auf dem Pooram-Festival in Kerala
       
       Daniel erwartet uns am Busbahnhof. Ein großer Mann mit Bauchansatz und
       schwarzem Vollbart. Kurz darauf sitzen wir zusammen in einer Motor-Rikscha,
       die uns auf einer schmalen, kurvigen Straße hoch in die Berge Südindiens
       bringt. Wir fahren ins Dorf Thrikkepetta zum Home Stay, den wir per
       Internet gebucht haben. Die halbstündige, holperige Fahrt endet im
       Vorgarten von Mary. Kokospalmen, Bananenstauden, Mangobaum. Unter einer
       Palme schläft Tiger, der hellbraune Hofhund, und auf der Terrasse des
       hellgrün gestrichenen Bungalows erwartet uns die Gastgeberin. In Marys Haus
       werden wir die kommenden Tage wohnen.
       
       Viel Zeit bleibt nicht, unsere Sachen in dem einfachen Zimmer mit Bett,
       Tisch und Schrank unterzubringen. Der Nachmittagstee wartet. Nachdem wir
       von den in Kokosöl frittierten Kringeln, dem frisch gebackenen Kuchen und
       dem in Milch und Ei gebratenen Toast gekostet haben, ist klar: Bei Mary
       sind wir gut aufgehoben. Sie ist eine von fünf DorfbewohnerInnen, die Gäste
       aufnehmen - ein neues Projekt des gesamten Dorfs. Wir sind nach einem
       französischen Pärchen bereits die zweiten zahlenden Besucher.
       
       Der Wayanad District ist eine bewaldete Gegend ganz im Norden von Kerala.
       Die Ausläufer der bis zu 2.700 Meter hohen Western Ghats treffen auf die
       Tiefebene von Karnataka. Europäische Touristen kommen selten hierher. Noch,
       denn die indische Reiseindustrie erschließt gerade diese Region. Es gibt
       zwei Nationalparks, eine Seenlandschaft und Felsenreliefs aus der
       Jungsteinzeit - quasi das Lascaux Indiens. Überall am Straßenrand entstehen
       neue Hotelkomplexe. Die boomende Großstadt Bangalore liegt 200 Kilometer
       entfernt, das quirlige Mysore nur 100 Kilometer. Es ist vor allem die
       aufstrebende indische Mittelschicht, die im Wayanad frische Luft und
       Erholung sucht. Doch trotz der vielen Hotels profitieren die Menschen in
       der unmittelbaren Umgebung kaum vom Reiseboom.
       
       Das jedenfalls ist die Beobachtung von Sumesh Mangalassery, der selbst in
       Bangalore in der Tourismusbranche arbeitete. Bangalore und Mysore liegen im
       Bundesstaat Karnataka, die Landessprache ist Kannada. In Kerala hingegen
       spricht man Malayalam, weshalb die besseren Jobs schon allein wegen der
       Verständigung an Menschen aus Karnataka vergeben werden. Was in der Gegend
       bleibt, ist vor allem der Müll: Berge von Plastik, ohne jegliches
       Entsorgungskonzept. Das NGO-Projekt Kabani.org von Sumesh, der seinen Job
       in Bangalore gekündigt hat, ist ein Gegenentwurf. Der Tourismus soll
       nachhaltig sein und die Dorfstruktur stärken. 60 Prozent der Einnahmen
       bekommt die Gastfamilie, 20 Prozent geht an die Dorfgemeinschaft, 20
       Prozent an die NGO. Die Lebensmittel kommen aus der eigenen Landwirtschaft,
       das Gemüse, der Reis, die Kokosnüsse. Fast jeder hat hier Land, der eine
       mehr, der andere weniger. Doch die Erträge allein reichen zum Leben nicht
       mehr aus. Die Preise für viele Produkte wie Kaffee oder Pfeffer sind stark
       gefallen. Zudem hat eine in vielen Regionen verbreitete Pflanzenkrankheit,
       eine Art Mehltau, die Ernte geschmälert. Nicht nur in diesem Dorf befinden
       sich viele Kleinbauern in wirtschaftlicher Not. Wer kann, sucht sich
       Nebenjobs.
       
       Mary kommt der Zusatzverdienst gerade recht. Der 11-jährige Sohn Dino
       braucht Geld für die Ausbildung. Und ihr Mann Eldo ist nach 18 Jahren
       Panzerfahren in Nordindien aus der Armee ausgeschieden. Mehr als einen
       Dreitagejob als Wachpersonal bei einer Kommunikationsgesellschaft hat er in
       der Gegend nicht gefunden. Selbst im hochgelobten Kerala, dem Bayern
       Indiens, zählt die Arbeitslosigkeit zu den größten Problemen.
       
       Für die Landwirtschaft ist Mary zuständig. Hinter ihrem Haus wächst eine
       kleine Kaffeeplantage. Die Palmen liefern genug Kokosnüsse für das Jahr,
       das Reisfeld liegt etwa einen Kilometer entfernt, der Gemüsegarten quer
       über der Straße. Hinter dem Bungalow haben zwei Ziegen ihr Zuhause. Die
       Kokosnüsse lagern auf einem großen Haufen in der Vorratskammer. „Jeden Tag
       brauche ich zwei“, erklärt die 42-Jährige lachend. Geübt greift sie die
       noch mit der Faser ummantelte Nuss und schlägt sie mit einer stumpfen
       Machete entzwei. Anschließend werden die beiden Teile an einer Reibe
       geraspelt. Die Flocken mit Wasser aufgegossen und ab und an mit der Hand
       ausgepresst - fertig ist die Kokosmilch. Sie kommt in fast alle Speisen,
       mal mit Flocken, mal ohne.
       
       Die Küche von Mary ist geräumig. Über zwei Feuerstellen hängen große Töpfe,
       in denen Wasser heiß gemacht oder Speisen gegart werden. Für ein gehobenes
       Mal betreibt die Köchin gehörigen Aufwand. Schon zum Frühstück gibt es
       warmes Essen. Iddlis zum Beispiel, in Dampf gegarte Klöße aus Reis- und
       Linsenmehl, mit verschiedenen Saucen. Zu Mittag und Abend kommt Reis auf
       den Tisch, getränkt mit gewürzter Kokosmilch und mit einer Vielzahl von
       Gemüsecurrys und Rohkost. Unser Lieblingsessen: Salat aus geraspelter Roter
       Bete mit Kokosflocken oder die in Joghurt eingelegten Zwiebeln. Dazu reicht
       Mary stets zwei Sorten Fleisch oder Fisch.
       
       Mary begleitet uns bei Ausflügen ins Dorf und stellt uns den neugierigen
       Nachbarn vor. Es gibt aber auch peinliche Momente, in denen wir in einer
       indischen Hütte stehen und nicht so richtig wissen, was wir sagen sollen.
       Vor allem, wenn die Bewohner kein Englisch sprechen. Aber in der Regel
       werden viele Fragen ausgetauscht. Manchmal begleitet uns Daniel. Er ist für
       das Projekt im Dorf verantwortlich. Auf dem Fragebogen, den wir vor unserer
       Reise im Internet ausfüllten, hatten wir Landwirtschaft und Wirtschaft als
       Interessenschwerpunkte angegeben. So lernen wir, dass das, was wir bisher
       als Wald bezeichnet hatten, in Wahrheit mehrstöckige Anbauflächen sind.
       Ganz unten wächst Kardamon, dessen Kapseln nur wenige Zentimeter über der
       Erde reifen. In Strauchhöhe gedeiht Kaffee, Vanille, Ananas. Darüber kommen
       die Bäume: Mangos, Jackfrucht, riesige Grapefruits, die allgegenwärtige
       Kokosnuss und die Arekanuss, die als Rauschmittel verwendet wird. Um alles
       windet sich der wie Efeu rankende Pfeffer. Wir lernen, dass es den Beruf
       der Kokosnusspflücker gibt und den der Arekanuss-Ernter, die sich, weil die
       Palmen so dünnstämmig und biegsam sind, von Krone zu Krone schwingen.
       
       In der schönen Landschaft liegen runde schwarze Granitbrocken, groß wie
       versteinerte Wale. Immer wieder tauchen hinter Palmen Hütten auf, oft auch
       eine Kirche - jeder Fünfte in Kerala ist Christ. Wir wandern auf den etwa
       1.200 Meter hohen Hausberg, an dessen Hang sich das Dorf schmiegt. Marys
       Mann Eldo, ihr Sohn Dino und drei weitere Freunde begleiten uns. Ganz oben
       auf dem Kamm steht ein Hindutempel. Schweißüberströmt erreichen wir den
       Gipfel: tief unter uns das Dorf, dahinter eine flache Ebene, aus der ab und
       an kegelartige Granitfelsen ragen. Dahinter wieder Berge. Den eigentlichen
       Tempel erreichen wir nicht mehr. Es ist schon später Nachmittag, und die
       heilige Stätte liegt noch etwa eine Stunde entfernt Richtung Osten. Wir
       haben den Weg unterschätzt. Ein anderes Mal wird es klappen, meint Eldo.
       Vielleicht mit den nächsten Touristen.
       
       7 Mar 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kerstin Schweizer
       
       ## TAGS
       
   DIR Reiseland Indien
   DIR Kerala
       
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