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       # taz.de -- Neo-Western "No Country for Old Men": Was Männern bleibt
       
       > "No Country for Old Men", das Oscar-gekrönte Meisterwerk der Coen-Brüder,
       > ist ein Neo Noir-Western: wertefest, moralfrei und am Ende sind alle tot.
       
   IMG Bild: Der Schnauzer: Josh Brolin.
       
       Als sich doch noch so etwas wie ein Gewissen regt, haben die Menschen in
       "No Country for Old Men", dem Oscar-gekrönten Geniestreich der Coen-Brüder,
       bereits jede Chance auf Läuterung verspielt. Von hier an geht es nur noch
       bergab. Bezeichnenderweise ist die einzig gute Tat des Films auch die
       dümmste. "Wenn ich nicht wiederkommen sollte, sag meiner Mutter, dass ich
       sie liebe", sagt Llewelyn Moss seiner Frau zum Abschied. "Aber Llewelyn,"
       antwortet sie verwirrt, "deine Mutter ist tot" - "Dann sag ich es ihr eben
       selbst." Llewelyn kehrt zurück in die Nacht, in die Wüste, um dem einzigen
       Überlebenden eines gescheiterten Drogendeals einen Schluck Wasser zu
       bringen. Als er am Ort des Geschehens ankommt, ist der Fahrer tot - dafür
       erwartet ihn eine Bande bewaffneter Mexikaner, um die Drogen und einen
       Koffer mit zwei Millionen Dollar, den Llewelyn längst in Besitz genommen
       hat, sicherzustellen. Leicht verletzt schleppt er sich nach der
       Konfrontation in die Wüste; und plötzlich sind die Rollen vertauscht.
       Wenige Stunden zuvor hatte ein angeschossenes Wild den Vietnam-Veteranen
       zur Fundstelle geführt; nun ist Llewelyn selbst der Gejagte. Und die
       Mexikaner bleiben nicht sein einziges Problem.
       
       Die texanische Wüste ist eine der archetypischen Kinolandschaften. Kaum ein
       großer Hollywoodregisseur, der sich nicht hier verewigt hat. Dieses Land
       wurde erst der Natur abgerungen und später heldenhaft gegen die Mexikaner
       verteidigt. Mit dem Ölboom rückte dann die Zivilisationsgrenze näher. Doch
       die städtischen Ballungszentren Dallas und Houston sind nicht, was das
       amerikanische heartland ausmacht. Das Herz, das in Amerika schlägt, liegt
       weit draußen, wo der Mensch noch nicht seine Spuren hinterlassen hat. Wo
       die Welt nur Gestein, Staub und Himmel ist, an dem sich Wolkenungetüme
       unter bedrohlichem Grummeln zusammenschieben. Diese archaische Schönheit
       erweckt beim Betrachter unweigerlich eine Art Urvertrauen, das tröstliche
       Gefühl von Beständigkeit, dem man sich auch als Nichtamerikaner kaum
       entziehen kann. Es ist also kein Zufall, wenn sich in "No Country for Old
       Men" der erste Blick in die Ferne durch ein Zielfernrohr richtet. Bei den
       Coens hat sich das Verhältnis von Betrachter und Land grundlegend
       gewandelt.
       
       Deputy Sheriff Ed Bell, gespielt von einem grandios verwitterten Tommy Lee
       Jones, ist es, der im Film diese Veränderungen mit zunehmender Besorgnis
       beobachtet. Jeden Tag geht er hinaus in dieses Land, zu Pferd oder
       motorisiert, um für Recht und Unordnung zu sorgen, so wie es schon sein
       Vater und sein Großvater vor ihm getan haben. Doch was ihn dort erwartet,
       versteht er längst nicht mehr. Die Alten, erzählt er am Anfang aus dem Off,
       hätten sich noch damit gebrüstet, ihren Dienst ohne Waffe zu verrichten.
       Die Verbrechen heute dagegen lassen sich an denen von früher kaum noch
       messen. Ein Mann, der sich dem entgegenstelle, müsse freiwillig Teil dieser
       Welt werden. Eine Welt, die bevölkert ist von Gestalten wie Anton Chigurh,
       der als schwarz gekleideter Todesengel mit Prinz-Eisenherz-Frisur aus dem
       Nichts auftaucht und mit mitleidloser Stoik seine eigene Rechtsordnung
       durchsetzt.
       
       Chigurhs exzentrische Erscheinung wird unterstrichen durch die Wahl der
       Waffe. Seine Opfer, über die er schon mal durch einen Münzwurf richtet,
       tötet er mit einer Druckluftpistole, wie sie in Schlachthäusern Verwendung
       findet. Ursprünglich entwickelt, um den Tieren unnötiges Leiden zu
       ersparen, stellt sie in den Händen eines Psychopathen die ultimativ
       unmenschliche Waffe dar. Wie Schlachtvieh blicken Chigurhs Opfer im
       Augenblick ihres Todes in den Lauf seines Bolzenschussgeräts.
       
       Man braucht gar nicht zu spekulieren, was die Academy-Jury an dieser Figur
       so fasziniert haben mag, dass sie Javier Bardem mit einem Oscar für die
       beste männliche Nebenrolle bedachte. Für Chigurh besitzen die Werte des
       "Old West" keinerlei Verbindlichkeit mehr. Außerhalb der gesellschaftlichen
       Normen handelnd, ist er sozusagen die Verkörperung des amerikanischen
       Albtraums.
       
       Ethan und Joel Coen interessieren sich natürlich nur am Rande für die
       Kino-Mythologie des texanischen Hinterlandes und noch viel weniger für
       einen Koffer voller Geld. Was "No Country for Old Men" strukturiert, sind
       die Handlungen von ein paar Männern mit ganz unterschiedlichen
       Einstellungen zu dem Land, auf dem sie sich bewegen. Llewelyn hat im Krieg
       für dieses Land sein Leben riskiert; gedankt hat es ihm niemand. Nun
       betrachtet er es buchstäblich als sein Jagdrevier. Der Außenseiter Chigurh
       wiederum wechselt mit derselben Leichtigkeit zwischen der mexikanischen und
       amerikanischen Seite der Grenze, wie auch seine Prinzipien Geld und Drogen
       transzendieren, wie es im Film einmal sarkastisch heißt. Trotzdem bleibt er
       in Texas ein Fremder; das Signal seines Transponders, der ihm den Weg zu
       den gestohlenen zwei Millionen Dollar weist, dient ihm lange als einzige
       Orientierungshilfe.
       
       Das Gefühl der Befremdung, das er mit sich in die Landschaft trägt, wird
       dabei zum Leitmotiv der Coen-Brüder. Man meint die Bilder schon hundertmal
       gesehen zu haben: die billigen Motels, eine staubige Tankstelle am Rande
       des Highways, den einsamen Grenzposten. Doch die Vertrautheit, die diese
       Landschaft im Kino traditionell suggeriert hat, sind in "No Country for Old
       Men" einem fundamentalen Unbehagen gewichen. Das Land scheint genauso
       unberechenbar wie die Figuren selbst.
       
       In Tommy Lee Jones erschöpftem Gesetzesmann Ed Bell finden die
       grassierenden Zustände einen lakonischen Kommentator, der mit seiner
       Überforderung nicht hinterm Berg hält. Ahnungslos stolpert er von einem
       Blutbad ins nächste, immer knapp zu spät, ohne überhaupt zu wissen, wem er
       da eigentlich auf den Fersen ist. "Ich glaube gar nicht mal, dass er ein
       Psychopath ist", sagt Ed einmal über seinen unbekannten Gegner. "Für mich
       ist er eher wie ein Geist." Aus seinen Worten spricht möglicherweise noch
       die archaische Vorstellung, dass da etwas in dem Land steckt, das einfach
       nur exorziert werden muss, um alles in einen Urzustand zurückzuversetzen.
       
       Doch die bösen Geister sind ganz real - wie auch die Löcher, die sie in den
       Körpern ihrer Opfer hinterlassen. Und je heftiger sich Llewelyn und Chigurh
       (nicht zu vergessen, stets im Hintergrund, die Mexikaner) bekämpfen, desto
       weiter stößt "No Country for Old Men" zum Kern von Cormac McCarthys Roman
       vor, auf dem der Film der Coen-Brüder basiert. Denn die Figur des Sheriffs
       ist das eigentliche Kraftfeld, das die Geschichte umkreist, obwohl der alte
       Ed lange Zeit nur wie ein Spielball unkontrollierbarer Kräfte wirkt.
       
       Tommy Lee Jones war in ähnlichen Rollen in letzter Zeit häufiger zu sehen.
       Männer, die sich im wörtlichen Sinne über ihr Land definieren; moderne
       Westerner im Grunde. In "Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada"
       spielte er einen Outlaw, der seinen Platz in der Wildnis sucht, weil die
       Gesellschaft für ihn nichts bereithält. Nun stellt er einen Gesetzeshüter
       dar, der den Bezug zu dem Land, für das er sich verantwortlich zeichnet,
       verloren hat. (Jones Vaterfigur in "Im Tal von Elah", der nächste Woche in
       den Kinos anläuft, erinnert auf frappierende Weise wieder an Ed Bell.)
       Beide Filme spielen im amerikanisch-mexikanischen Grenzland, jenem
       Fleckchen Erde, das Cormac McCarthy in seiner "Border"-Trilogie so
       eindringlich topografiert hat. Dass die Coens nun aus einem eher minderen
       Roman, der bestenfalls als bitterer Nachgeschmack von McCarthys Hauptwerk
       zu verstehen ist, ihren bislang dichtesten, weil formal schnörkelosesten
       Film gemacht haben (selbst auf Musik haben sie verzichtet), ist eine dieser
       Idiosynkrasien, die die wechselhafte Karriere der Coen-Brüder seit jeher
       auszeichnet. "No Country for Old Men" wird in der Filmgeschichte eingehen
       als strahlendes Beispiel eines Neo-Noir-Westerns, der bei aller
       Wertfestigkeit keine moralischen Gewissheiten aufbietet. Tommy Lee Jones
       Figuren verkörpern diese Form eines positiven Konservatismus mittlerweile
       in ähnlich autoritärer Weise wie der späte Eastwood. Sie alle entstammen
       einer anderen Zeit. Die Erinnerung an vergangene Werte ist das Einzige, was
       den alten Männern noch geblieben ist.
       
       26 Feb 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Busche
       
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