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       # taz.de -- Psychiatrie-Patienten: Ein ewiges Stigma
       
       > Vorurteile und eine hohe Arbeitslosigkeit verhindern noch immer die
       > Integration von psychisch Kranken in unsere Gesellschaft, zeigt eine
       > Studie.
       
   IMG Bild: "A beautiful mind" - eine eher seltene Ansicht über Psychisch Kranke
       
       Hätte sich der Mathematiker John F. Nash keinen Namen in der Spieltheorie
       gemacht, wäre ihm später der Weg aus der Psychiatrie ins normale Leben wohl
       verwehrt gewesen. 20 Jahre lang musste der Schizophreniekranke immer wieder
       in der Nervenheilanstalt behandelt werden. In dieser Zeit gab es keine
       wissenschaftlichen Aufsätze von ihm. Trotzdem erhielt er 1994 im Alter von
       66 Jahren, als er wieder beruflich aktiv war, den Nobelpreis für
       Wirtschaftswissenschaften. Obwohl sich viel in der Behandlung psychisch
       Kranker geändert hat, findet heute ein Großteil der Patienten mit
       Angststörungen, Suchterkrankungen oder Depression nicht wieder in die
       Gesellschaft zurück.
       
       Eine Studie der Universitäten Karlsruhe und Münster unter Federführung des
       Mediziners Bernd Eikelmann hat aufgedeckt: vor allem Alkoholabhängige und
       Schizophreniekranke sind seltener verheiratet oder haben Kinder und sind
       zudem häufiger obdachlos, arbeitslos oder Frührentner. Und damit seien die
       bei der Psychiatrie-Reform 1975 gesetzten Ziele nicht erreicht worden,
       bemängelt die Studie.
       
       Anfang der 1970er-Jahre prangerten verschiedene Anti-Psychiatrie-Bewegungen
       die menschenverachtenden Umstände an, unter denen psychisch Kranke damals
       in "Irrenhäusern" ihr Dasein fristeten. Der Wissenschaftler und Vordenker
       Klaus Dörner forderte: "Die Psychiatrie ist eine soziale oder sie ist
       keine!" Die Enquetekommission der Bundesregierung stellte daraufhin in
       einem Bericht fest: Über 70 Prozent der Behandlungen erfolgen gegen den
       Willen der Patienten; diese müssen in großen, überbelegten Schlafsälen
       nächtigen; es gibt zu wenig Personal; es geht lediglich um Verwahrung
       anstatt um Rehabilitation; viele Einrichtungen finden sich in abgelegenen
       Gegenden; 30 Prozent der Patienten verweilen mehr als zehn Jahre in der
       Anstalt, viele ein Leben lang.
       
       Das primäre Reformziel von Regierung und Sozialverbänden lautete daher:
       "Psychisch kranke Menschen sollen die therapeutischen Hilfen und
       Lebensbedingungen erhalten, die sie benötigen, um in ihrem Heimatkreis auf
       Dauer integriert leben zu können." Die Gemeindepsychiatrie war geboren. Im
       Zuge der Reform wurden dann zahlreiche Kliniken geschlossen, dafür
       eröffneten Krankenhäuser psychiatrische Stationen. Zwangseinweisungen hat
       man seither drastisch reduziert, und auf einen Patienten kommen heute mehr
       Therapeuten als damals.
       
       Manche sehen daher die Psychiatrie-Reform als das herausragende
       sozialpolitische Reformprojekt in der deutschen Geschichte. Trotzdem zeigen
       sich - wie etwa in der Eikelmann-Studie - immer wieder Rückschritte und
       Defizite. Doch was steht der Integration psychisch Kranker im Wege?
       
       Ein Grund ist die heute existierende hohe Arbeitslosenquote. Denn: Wo
       sowieso schon Arbeitsplatzmangel herrscht, sind ehemalige
       Psychiatriepatienten schwer zu vermitteln. "Zum Beispiel haben
       Alkoholkranke meist ein hohes Alter, eine geringe schulische Qualifikation
       und gesundheitliche Probleme", so Dieter Henkel, Soziologe an der FH
       Frankfurt. Laut seinen Studien steigen die Arbeitslosenzahlen
       Alkoholkranker nach der Reha sogar proportional stärker an als in der
       Allgemeinbevölkerung. 1975 waren 7,2 Prozent der Alkoholsüchtigen
       arbeitslos gemeldet, 2003 waren es 36,7 Prozent. Die Arbeitslosenrate der
       Allgemeinbevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 4,7 auf 11,6 Prozent.
       Umgekehrt gilt: Arbeitslose Alkoholiker werden häufiger rückfällig: Wer
       nach der Reha keinen Job fand, hatte ein 1,7-fach bis 3,5-fach höheres
       Risiko wieder zum Alkohol zu greifen. Die Suchtrehabilitation erscheint
       angesichts dieser Entwicklung wie ein Kampf gegen Windmühlen.
       
       Laut Eikelmann sind auch die "Integrierten" nicht wirklich integriert. Sie
       finden meist einen Platz in der psychosozialen Szene - arbeiten etwa als
       Betreuer in sozialen Wohngemeinschaften oder als Koch in Cafés für
       Exalkoholiker - bleiben also weitgehend unter sich.
       
       Derweil geben sich Unternehmen bedeckt, wenn es darum geht, ob sie sich mit
       der Problematik psychischer Erkrankungen befassen. Heiner Keupp vom
       Caritasverband München ist überzeugt: "Heute steht der Reform das
       neoliberale Menschenbild mit seinen Prinzipien Mobilität, Flexibilität und
       multioptionale Offenheit entgegen."
       
       Trotzdem ist das Interesse der Wirtschaft für psychische Leiden vorhanden,
       schließlich steigt die Zahl psychisch Erkrankter an, was vermehrt
       Arbeitsausfälle und damit auch finanzielle Verluste verursacht. Immer mehr
       Firmen buchen darum etwa Schulungen beim Bundesverband der Angehörigen
       psychisch Kranker (BApK). "Damit brüsten will sich aber keiner", so Beate
       Liesofski vom BApK. Obwohl man solche Projekte ja als gesellschaftliches
       Engagement oder medizinische Vorsorge anpreisen könnte.
       
       Das Problem: Die hartnäckigen Vorurteile gegenüber psychisch Kranken.
       Schizophren Erkrankte werden von vielen Menschen für unberechenbar,
       gewalttätig, verrückt, andersartig und dumm gehalten. Aus der
       Stigmatisierung folgt: Die Betroffenen nehmen weniger psychiatrische Hilfe
       in Anspruch, haben einen schlechteren Behandlungserfolg und lassen soziale
       Kontakte eher schleifen.
       
       Dagegen hilft Aufklärung mittels Anti-Stigma-Kampagnen oder Ausstellungen.
       Beispiele gibt es genügend, etwa "Basta" - das Bündnis für psychisch
       erkrankte Menschen in München. Eine Abkehr von gesellschaftlichen
       Vorurteilen ist jedoch nur langfristig zu erwarten.
       
       Der BApK beklagt zudem das zergliederte Hilfssystem. "Es gibt zu wenig
       Vernetzung zwischen den Leistungsträgern - etwa der Klinik und der
       sozialpsychiatrischen Versorgung später in der Kommune oder in privaten
       Tagesstätten", so Liesofski. Abhilfe könnten hier sogenannte Case-Manager
       als Ansprechpartner für Ärzte, Krankenhaus, sozialpsychiatrische Dienste,
       Angehörige und Arbeitgeber schaffen. Auch Eikelmann lobt Projekte, bei
       denen sich Job- und Life-Coaches um die Eingliederung bemühen. "Allerdings
       ist die Finanzierung oft schwierig, da im Gesundheitssystem bekanntermaßen
       kein Geld für solche Projekte vorhanden ist", so Eikelmann.
       
       Die Lage für Psychiatriepatienten wird sich also vermutlich weiterhin
       verschlechtern. Eikelmann fordert daher die Politik auf, die
       Psychiatrie-Reform zu justieren: "Es sollte ein Expertengremium einberufen
       werden, das Auswege für die aktuellen Probleme findet."
       
       14 Sep 2007
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
       ## TAGS
       
   DIR Psychiatrie
       
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