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       # taz.de -- Gothic Szene: Ach, diese Tieftraurigkeit
       
       > In Deutschland ein Randphänomen, im Ausland als "Neue Deutsche
       > Todeskunst" gefeiert. Eine Phänomenologie des Dark Wave am Beispiel der
       > Band Lacrimosa.
       
   IMG Bild: Immer hart am Trend: Japanerin im Gothic-Look
       
       Er trägt Schwarz, hat sich das Gesicht bleich geschminkt und gibt sich
       schwärmerischer Todessehnsucht hin. So stellt man sich den klassischen
       Gruftie oder Goth vor, wie er vor allem in den Achtzigern Teil einer noch
       recht homogenen Jugendkultur sein durfte. Die ersten Bands der Szene, die
       sich im Zuge der Punk-Explosion Ende der Siebziger ausgehend von England
       entwickelte, waren The Cure, Siouxsie & The Banshees und Bauhaus - sie
       paarten den Gitarrenrock mit Mollharmonien und visueller Düsterästhetik.
       
       Ende der Achtziger begann sich die Szene immer stärker aufzuspalten, harte
       Industrial-Elektronik mit Fetisch- und SM-Bezügen firmierte als Gothic bzw.
       Darkwave genauso wie Bands, die schwärmerisch Hildegard-von-Bingen-Texte
       mit mittelalterlichen Instrumenten vertonten. Heute ist Gothic in
       Deutschland nur noch im Kern eine geschlossene Szene, die sich einmal im
       Jahr in all ihrer Vielfältigkeit beim Wave-Gothik-Treffen in Leipzig zeigt.
       Schlüsselelemente des Gothik findet man aber auch im Düsterimage von
       Marilyn Manson, Harry Potter, Bill von Tokio Hotel und im japanischen
       Visual Kei als Teil des Mainstreams wieder. Dort ist Gothic eher
       Style-Fundgrube als Lebenseinstellung, während in Szeneorganen wie Zillo
       oder Orkus Gothic immer noch als kohärente Jugendkultur propagiert wird.
       
       Einer der bekanntesten Vertreter der deutschen Gothic-Szene ist die Band
       Lacrimosa, 1990 von Sänger Tilo Wolff als Underground-Projekt in Frankfurt
       gegründet. Anfangs wurde sie neben Goethes Erben, Das Ich und Relatives
       Menschsein zur "Neuen Deutschen Todeskunst" gezählt, deren Kennzeichen ein
       Hang zu nihilistischen Texten, übertriebener Todessehnsucht und die
       Verwendung deutscher Texte war. 1996 hatten Lacrimosa die Single "Stolzes
       Herz" in den Charts, 1999 landete ihr Album "Elodia" in den Top Ten. Bis
       heute verkaufte sich jedes ihrer Alben in Deutschland über 20.000-mal.
       Mittlerweile hat die Band aber vor allem in Mexiko und China
       Megastar-Status. In Mexiko hängen die Band-T-Shirts auf jedem Straßenmarkt,
       zu den Konzerten kommen bis zu 11.000 durchaus textsichere Fans.
       
       Über die Jahre hinweg entwickelte sich die Band immer mehr in Richtung
       Stadion-Act, der sich nach dem Vorbild von Rammstein in wuchtigem
       Überwältigungs-Metal versucht. Die Stimme der finnischen Sängerin Anne
       Nurmi verleiht dem die nötige Weltentrücktheit, um neben dem Massenpublikum
       auch den harten Kern der frühen Jahre zu bedienen. Unübersehbarer Fixstern
       von Lacrimosa aber ist Tilo Wolff, der sich vom exzentrisch geschminkten
       Düstervogel im Fetisch-Look inzwischen zu einem Neoromantiker im Seidenhemd
       verwandelt hat und sich auf der Bühne bewegt wie eine Mischung aus
       feingeistigem Balletttänzer und wahnsinnigem Kapellmeister.
       
       Auf der eben erschienenen Konzert-DVD "Lichtjahre" wird penibel darauf
       geachtet, dass Tilo Wolff trotz des versprochenen Blicks hinter die
       Kulissen die geheimnisumwaberte Lichtgestalt bleibt, die seinen Fans gern
       als Projektionsfläche dient. Auf Internet-Fanforen wird zum Beispiel die
       Frage diskutiert: "Tilo Wolff, der Mozart des 21. Jahrhunderts?". Textlich
       geht es bei Lacrimosa viel um die "Seele", die "in Not ist", und um alles
       Mögliche rund ums Herz. Schlagerkitsch trifft hier auf betont
       Bedeutungsvolles, Gefühle und ausgestellte Tieftraurigkeit beherrschen das
       Szenario, Songtitel können auch mal "Tränen der Sehnsucht" heißen. Was
       tatsächlich manchmal auch an die Münchner Freiheit oder sogar an Blumfeld
       erinnert.
       
       10 Aug 2007
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
       
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