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       # taz.de -- Kommentar: Ideologie des Ständestaats
       
       > Dem Nachwuchs aus Akademikerfamilien wird der Besuch einer Hochschule
       > praktisch in die Wiege gelegt. Feudale Verhältnisse, demokratisch
       > ummäntelt.
       
       Wer sich über den demokratischen Charakter des deutschen Bildungssystems
       noch Illusionen gemacht hat, sieht sich durch die neueste Sozialerhebung
       des Deutschen Studentenwerks eines Schlechteren belehrt. Dem Nachwuchs aus
       Akademikerfamilien wird der Besuch einer Hochschule praktisch schon in die
       Wiege gelegt, während Arbeiterkinder nur minimale Chancen auf ein Studium
       haben: Das ist, kurz zusammengefasst, Jahrzehnte nach der Bildungsreform
       der Sechziger- und Siebzigerjahre noch immer die Realität in diesem Land -
       eine Realität allerdings, die im politischen Diskurs weitgehend
       ausgeblendet wird.
       
       Der Begriff der Chancengerechtigkeit spielt zwar neuerdings in
       Diskussionspapieren des SPD-Vorstands eine Rolle, in der Praxis von
       Regierung, Medien und auch Wählern kommt das Konzept allerdings kaum vor.
       Da geht es um die klassischen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit: Hartz
       IV, Reichensteuer, jetzt der Mindestlohn. Mit anderen Worten: Grotesk
       unterschiedliche Bildungschancen werden akzeptiert, wenn nur die sozial
       Schwächeren ihr Auskommen haben und die Vermögenden nicht allzu unverschämt
       werden. Eine solche soziale Ordnung, die hierzulande allseits akzeptiert
       wird, nennt man allerdings nicht Demokratie. Als Historiker kennt man sie
       unter dem Begriff Feudalsystem.
       
       Anders als beim Mindestlohn, der jetzt als Thema für den nächsten Wahlkampf
       aufgebaut wird, war sich die große Koalition beim Thema Bildung schnell
       einig. Sie hat sich gleich nach Amtsantritt für nicht zuständig erklärt,
       indem sie mit der Föderalismusreform alle Kompetenzen an die Länder abtrat.
       Irgendetwas habe man als Gegenleistung für die Reform ja anbieten müssen,
       hieß es damals. Irgendetwas? Es handelte sich ja bloß um den größten
       Skandal, den die soziale Realität in diesem Land zu bieten hat - nicht nur
       unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit übrigens, sondern auch der
       wirtschaftlichen Entwicklung. Es hat nur keiner gemerkt. Weder die selbst
       ernannten Erneuerer mit ihrer großspurigen Reformrhetorik, noch die
       Hartz-IV-Gegner der neuen Linken, die dem Ständestaat mit ihrer
       Alimentationsideologie in die Hände spielen.
       
       20 Jun 2007
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Bollmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
       
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