URI: 
       # taz.de -- Autobiografie: In Würde sterben statt ohne Würde leben
       
       > Der seit einem fremdenfeindlichen Überfall querschnittsgelähmte Noël
       > Martin hat seine Autobiografie geschrieben: "Nenn es mein Leben".
       
   IMG Bild: Negus Martin hält das Buch seines Vaters
       
       "Nenn es: mein Leben" ist der Titel der Autobiografie von Noël Martin. Es
       ist die Geschichte eines Lebens im Rollstuhl. Noël Martin, ein Engländer
       jamaikanischer Herkunft, ist vom Hals abwärts gelähmt. Seine Wirbelsäule
       ist am 16. Juni 1996 im Genick gebrochen. An diesem Tag haben ihn zwei
       rechte Jugendliche in dem Dorf Mahlow bei Berlin mit dem Auto verfolgt und
       während der Fahrt einen Feldstein in seinen Wagen geworfen. Gestern stellte
       Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) in der Staatskanzlei
       in Potsdam das Buch vor, das im Original "Call it a day. Its not a life"
       heißt.
       
       Noël Martin geht es gesundheitlich so schlecht, dass er nicht kommen
       konnte. Er schickte per Videobotschaft ein Grußwort. Alles, was er zu sagen
       hat, steht ohnehin in seinem Buch, das im von Loeper Literaturverlag
       erschienen ist. "Ist es nicht besser, in Würde zu sterben als ohne Würde zu
       leben?", fragt er da. Im vergangenen Jahr hat er angekündigt, an seinem 48.
       Geburtstag am 23. Juli aus dem Leben zu scheiden. Er will sich von der
       Schweizer Sterbehilfeorganisation "Dignitas" ein tödliches Gift spritzen
       lassen. Vorher will er sich mit einer Party von seinen Freunden
       verabschieden.
       
       Sein Buch ist in der dritten Person geschrieben. Anklagende, hasserfüllte
       Sätze finden sich nicht darin. Auch nicht über die Täter, die nach fünf und
       acht Jahren Haft längst wieder frei sind und bis heute keine Reue zeigen.
       Es sind Sätze, die in ihrer schonungslosen Nüchternheit ein gnadenloses
       Bild seines Lebens zeichnen. "Er sitzt dort, stinkend, in seinen
       Exkrementen." Ein Dekubitus, eine Druckwunde, die tödlich sein kann, zwingt
       ihn wochenlang ins Bett. "Er liegt im Bett und riecht den Gestank seines
       eigenen Fleisches, das verrottet." Am After bilden sich Hämorrhoiden. Er
       lässt sie nicht entfernen, weil er nicht auch noch inkontinent werden will.
       An manchen Tagen verliert er bis zu einem halben Liter Blut.
       
       Noël Martin braucht einen Rollstuhl, der perfekt an seinen Körper angepasst
       ist. Ein spezielles Gelkissen, ein geeignetes Bett, eine Rampe, eine
       Hebevorrichtung, physiotherapeutische Geräte. Er kämpft bei der
       Sozialfürsorge, Ärzten und Beamten um jede minimale Linderung. Allein das
       Aufstehen dauert jeden Tag mindestens vier Stunden. Vor sieben Jahren ist
       seine Frau Jacqueline, die ihn rund um die Uhr versorgt hat, an Krebs
       gestorben. Ein Schicksalsschlag, von dem er sich bis heute nicht wirklich
       erholt hat.
       
       Trotzdem ist er auch danach nach Mahlow zurückgekehrt, an den Ort, an dem
       er aus dem Leben geworfen wurde, und demonstrierte gegen
       Fremdenfeindlichkeit. Er gründete einen "Noël-und-Jacqueline-Martin-Fonds"
       zur Förderung der Verständigung junger Menschen aus Brandenburg und
       Birmingham. Ein Teil des Verkaufserlöses aus seinem Buch kommt dem Fonds zu
       Gute.
       
       Im vergangenen Jahr eröffnete er zu den "Brandenburg-Tagen" in London ein
       Straßenfußballturnier für Toleranz. Bei einem Empfang in der deutschen
       Botschaft hatte Ministerpräsident Platzeck zu ihm gesagt: "Brandenburg
       braucht Sie." Gestern appellierte er an junge Menschen, das Schicksal von
       Noël Martin zu begreifen. "Der Anschlag stürzt ihn in eine andere Welt, in
       die eines Opfers, in die eines Menschen, der von einer zur anderen Sekunde
       in einem kaum noch funktionierenden Körper gefangen ist." Auf nahezu
       beispiellose Weise versuche er, seine Würde zu bewahren und einen letzten
       Rest von Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten.
       
       Noël Martin will nicht mehr erklären müssen, dass er seine Würde nicht
       völlig verlieren möchte. Wie unerträglich es ist, vollkommen von anderen
       abhängig zu sein, ihrem Verständnis, ihrem guten Willen. Einen Traum
       immerhin konnte er sich erfüllen, den er zusammen mit seiner Frau hatte. Er
       hat sich ein Rennpferd gekauft. "Baddam" ist allen anderen davongelaufen
       und gewann sogar auf der weltbekannten Rennbahn in Royal Ascot. "Dies war
       der Traum meines Lebens und nun ist er Wirklichkeit geworden", schreibt er
       in seinem Buch. In wenigen Wochen will Noël Martin davonreiten. Von
       Selbstmord spricht er nicht. Er nennt es weiterziehen.
       
       24 Apr 2007
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Bollwahn
   DIR Barbara Bollwahn
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nachruf zum Tod Noël Martins: „Sie haben mich nicht besiegt“
       
       Der Bauunternehmer Noël Martin wurde 1996 von Neonazis schwer verletzt. Bis
       an sein Lebensende kämpfte er gegen Rassismus und für Verständigung.
       
   DIR Noël Martin ist tot: „Wir müssen jeden Tag kämpfen“
       
       Vor 24 Jahren wurde der Brite Opfer eines rassistischen Anschlags in
       Brandenburg. Die Polizei tat sich schwer, die Täter zu ermitteln.