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       # taz.de -- Solidarität mit Flüchtlingen in den 70ern: Organisiert das!
       
       > Die intellektuelle, künstlerische und Show-Elite mobilisierte 1978. Die
       > Solidarität mit den rund 1,5 Millionen „Boatpeople“ war und ist
       > beispielhaft.
       
   IMG Bild: Das Rettungsschiff „Cap Anamur“.
       
       „Niedersachsen nimmt 1.000 Flüchtlinge auf. Organisiert das!“ Diese Sätze
       stammen nicht aus einem utopischen Roman, sondern waren ein Befehl an die
       deutsche Botschaft in Malaysia, vor dessen Küste kurz vor Weihnachten 1978
       rund 2.500 Flüchtlinge aus Vietnam hilflos im Meer trieben. Fernsehbilder
       davon erreichten Europa und veranlassten den damaligen niedersächsischen
       Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (1930–2015) zu seiner Anordnung.
       
       Albrechts Tochter – die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen –
       sieht heute vergleichbare Bilder vom Flüchtlingselend und reagiert mit
       Kalkülen, wie man den „Flüchtlingsstrom“ mit militärischen Mitteln – durch
       die Versenkung von potenziellen Flüchtlingstransportschiffen und durch
       Verfolgung von Schleuserbanden mit bewaffneten Drohnen „eindämmen“ könnte.
       Nutzen und völkerrechtliche Zulässigkeit sind zwar fraglich, aber die
       Kollateralschäden garantiert. Zwei Amtsträger aus derselben
       Politikerfamilie, aus derselben Partei, die gleichen Bilder von
       Flüchtlingsschicksalen, aber unterschiedliche Reaktionen?
       
       Die wirtschaftliche Lage war damals so blendend wie heute. Die Ölpreiskrise
       von 1973/74 war überwunden, die Wirtschaft brummte. Heute ist das Land
       „Exportweltmeister“. Flüchtlinge sind für die BRD kein finanzielles
       Problem. Emotionale Faktoren und mentalitätsmäßige Entwicklungen bei der
       Wahrnehmung von Flüchtlingselend in der Bevölkerung sind viel wichtiger als
       die wirtschaftliche Konjunktur. Dass Deutschland problemlos MigrantInnen
       aufnehmen kann, zeigt das Beispiel der Russlanddeutschen. 2,5 Millionen
       Menschen kamen bis 2005, ohne dass das ins Gewicht fiel und übermäßig
       diskutiert wurde.
       
       1978 nun fielen die Bilder der Flüchtlinge im südchinesischen Meer in die
       Vorweihnachtszeit und rüttelten Menschen auf. Es waren obendrein die
       „richtigen Flüchtlinge“: Sie flohen vor dem brutalen Racheregime der
       kommunistischen Sieger aus dem Norden, die Umerziehungslager für die
       Besiegten einrichteten. Auf einen antikommunistisch fundierten Bonus können
       die heutigen Armutsflüchtlinge aus Afrika und die Kriegsflüchtlinge aus
       Syrien nicht hoffen.
       
       Etwa 1,5 Millionen Vietnamesen kämpften auf dem Meer um ihr Überleben.
       Tausende fielen Piraten in die Hände, schätzungsweise 250.000 ertranken
       oder verhungerten. Die Flüchtlinge fungierten in der medialen Wahrnehmung
       wie für die Politik als Opfer des Ost-West-Konflikts. Sie wurden zum Faktor
       in der simplen bipolaren Kompensationslogik: Heuerte die DDR damals
       Vertragsarbeiter aus Nordvietnam an, so kümmerten sich die BRD, Frankreich
       und andere Länder „natürlich“ um die Opfer des kommunistischen Regimes.
       
       ## Indifferenz gegenüber Flüchtlingen
       
       Diese politische Buchhaltung hat offen oder versteckt diesseits und
       jenseits des Eisernen Vorhangs eine Rolle gespielt, aber sie erklärt nicht
       die Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen von
       1978/79 und die aktuelle Indifferenz gegenüber Flüchtlingen aus Afrika, dem
       Nahen Osten und Asien.
       
       Schon bevor am 3. 12. 1978 auf Albrechts Initiative hin die ersten 180
       Flüchtlinge von der Bundeswehr nach Hannover geflogen wurden, erfasste die
       deutsche Öffentlichkeit dank der medialen Berichterstattung über Boatpeople
       eine Welle des Mitgefühls und tätiger Solidarität, die sich in den
       Weihnachtstagen und nach Neujahr noch verstärkte. Nach dem französischen
       Vorbild der Kampagne „Ein Schiff für Vietnam“ organisierte Rupert Neudeck,
       bislang Journalist beim Deutschlandfunk, eine Hilfsaktion in Deutschland.
       Er hatte sich in Paris informiert und sah, dass dort Linke, die zehn Jahre
       zuvor gegen den Krieg der USA in Vietnam demonstriert hatten, nun mit
       Konservativen und Liberalen gemeinsam Hilfe für die Boatpeople
       organisierten.
       
       Der halb erblindete, linke Intellektuelle Jean-Paul Sartre ging Hand in
       Hand mit seinem liberal-konservativen Kontrahenten Raymond Aron in den
       Élysée-Palast, um den Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing zum
       Handeln aufzufordern. Die demonstrative Geste wurde moderiert von 68er
       Intellektuellen (etwa Glucksmann, Lévy und Bruckner).
       
       ## „Cap Anamur“ wird Rettungsschiff
       
       Neudeck war von dieser Demonstration beeindruckt und entschlossen, auch in
       der BRD eine Kampagne für das französische Schiff zu starten. Heinrich Böll
       engagierte sich ebenso wie Alfred Biolek, Freimut Duve und die Journalisten
       Franz Alt und der konservative Matthias Walden. Innerhalb weniger Wochen
       kamen so viele Spenden zusammen, dass das „Hilfskomitee zur Rettung
       vietnamesischer Flüchtlinge“ in Japan ein eigenes Rettungsschiff mit dem
       Namen „Cap Anamur“ chartern und zum Rettungsschiff umrüsten lassen konnte.
       
       Mit diesem Schiff wurden ohne staatliche Hilfe über 10.000 Flüchtlinge
       gerettet, die BRD nahm rund 7.000 auf, änderte das Asylrecht und schuf den
       Status „humanitärer Flüchtling“, der den Betroffenen den erniedrigenden
       Anerkennungsparcours ersparte. Insgesamt rund 40.000 Flüchtlinge erhielten
       diesen Status, bis er 1982 wieder kassiert wurde, weil Bayern und NRW keine
       weiteren Sonderkontingente aufnehmen wollten.
       
       Während die politisch breit abgestützte „humanitäre Hilfe“ für die
       Boatpeople bis heute ein Vorbild darstellt, versackte die französische
       Kampagne in medialen Eitelkeitspirouetten und ideologischem Handgemenge. In
       diesem wurde die Tatsache, dass die Vietnamesen vor dem kommunistischen
       Regime flohen, für eine finale Abrechnung mit dem „Totalitarismus“
       zugerüstet. Der Legende nach entstand dieser „Antitotalitarismus“ nach dem
       Gulag-Schock, das heißt nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von
       Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ auf Französisch im Juni 1974.
       Diese Legende zerpflückte Michael Christofferson 2009 in seiner leider
       nicht übersetzten Studie „Les intellectuels contre la gauche“.
       
       Die Kritik am Kommunismus begann jedoch nicht 1974, sondern unmittelbar
       nach 1945. Maurice Merleau-Ponty etwa zweifelte schon 1950, angesichts der
       Arbeitslager Stalins, ob da „noch von Sozialismus zu sprechen“ sei. Nach
       dem Aufstand in Ungarn (1956) und nach dem Einmarsch der
       Warschauer-Pakt-Truppen in Prag (1968) geriet der Staatskommunismus
       endgültig in Verruf. Mit dem „Programme commun“ von 1972 rehabilitierte
       Mitterrand nicht den Kommunismus, sondern wollte die Wahlchancen der
       Sozialisten verbessern.
       
       ## Bizarre Debatten
       
       Der „Antitotalitarismus“, den die Maoisten um Bernard-Henri Lévy
       propagierten, sollte den Spät-Stalinismus und die marxsche Theorie im
       Handstreich erledigen. Das war keine Antwort auf eine reale Bedrohung,
       sondern eine Kampfansage an ein Phantom im ideologischen Grabenkrieg. Die
       Kritik galt nicht den Diktaturen im Osten, sondern den möglichen
       Verantwortlichen einer französischen Regierung aus Sozialisten und
       Kommunisten.
       
       Je näher die Parlamentswahlen 1978 rückten, desto bizarrer wurden die
       Debatten. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die Bücher André Glucksmanns
       und Bernard-Henri Lévys, die zu Fibeln des „Antitotalitarismus“ der „neuen
       Philosophen“ wurden. Deren Medienzirkus hatte nichts mit einer historisch
       fundierten Auseinandersetzung mit dem „realexistierenden Sozialismus“ zu
       tun. Das Gezänk war nur ein medialer Reflex auf die innerfranzösische
       Debatte über die KPF und die Linksunion; das Schicksal der Boatpeople
       diente dabei als Verstärker für Emotionen.
       
       Die Boatpeople waren für Lévy & Co das Sprungbrett für ihre
       Selbstprofilierung als Fernsehphilosophen. Mit ihrer Dauerbeschwörung von
       Menschenrechten (“droits de l’homme“) und Humanität ("humanité“) riefen sie
       Konservative, Rechte und postmoderne Modephilosophen auf den Plan, die
       fortan linke Politik für Menschenrechte, Solidarität und humanitäre Hilfe
       als moralisierenden Spuk beziehungsweise „droits de l’hommisme“
       (Menschenrechtlerei) und „humanitarisme“ (Humanitätsduselei) denunzierten.
       Was als humanitäre Aktion begonnen hatte, endete als mediale Farce.
       
       ## Absichtserklärungen und militärische Pläne
       
       Als Ernst Albrecht 1978 die Bilder sah, sagte er, „das kann man ja nicht
       ertragen“, und handelte. Und was tut die deutsche „Realpolitik“ heute? Sie
       schweigt zur Forderung nach aktiver Flüchtlingshilfe und verliert sich in
       Absichtserklärungen und militärischen Plänen. Die intellektuelle,
       künstlerische und Show-Business-Elite gab sich 1978 einen Ruck und
       mobilisierte die Bevölkerung für die Solidarität mit Flüchtlingen.
       
       Ohne solches Engagement ist Flüchtlingshilfe chancenlos. Und wo steht die
       intellektuelle, künstlerische und Unterhaltungselite heute? Nur ein
       parteiübergreifender, medial gut platzierter Appell kann die
       wohlstandschauvinistische „Zivilgesellschaft“ wecken. Das gelingt momentan
       vor allem den Kirchen, denen vielerorts lokale Flüchtlingsinitiativen zu
       verdanken sind.
       
       24 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
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