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       # taz.de -- ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #3: Punk und der Rest ist Schrott
       
       > Die finnische Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät gilt als ein Favorit bei
       > diesem ESC. Ihr Lied ist feine ätzende Kritik an klassischer
       > Behindertenpädagogik.
       
   IMG Bild: Pertti Kurikan Nimipäivät beim Vorentscheid zum Eurovision Song Contest.
       
       Ihr Manager hatte die Idee, sich am finnischen Vorentscheid zum Eurovision
       Song Contest zu beteiligen. Und jetzt sind sie in Wien. In der
       Zwischenzeit: ein Bad in Gewogenheit zwischen Rovaniemi und Hanko am
       Südwestzipfel Finnlands. Pertti Kurikan Nimipäivät heißt die Band, um die
       es hier geht – und sie gilt, gemessen an der nach oben offenen
       Conchita-Wurst-AußenseiterInnen-Skala, als Favorit bei diesem 60.
       Eurovision Song Contest. Denn was sie von allen ihren 39 Konkurrenten
       unterscheidet, ist etwas, das im Sinne eines modernen
       Inklusionsverständnisses gar nicht wichtig sein soll. Denn PKN, so die
       Kurzform des Bandnamens, ist eine Kombo aus Behinderten.
       
       Pertti Kurikka (der Namensgeber), Kari Aalto (der Sänger), Sami Helle (der
       Englisch spricht) und Toni Välitalo (der Kleine) sind entweder mit
       Downsyndrom oder Williams Syndrom zur Welt gekommen, sind autistisch oder
       lerngeschwächt. Wie auch immer: Auf den ersten und letzten Blick sind sie
       vor allem Punker, und zwar in ihrer Heimat berühmte. PKN haben 2012 in
       einem Film über sich selbst mitgemacht („[1][The Punk Syndrome]“),
       ausgezeichnet in Tampere mit dem Publikumspreis. Sie sind in der Punkszene
       die beliebtesten Musikanten, sie stampfen und grölen und grummeln und
       schrummeln noch mit, wenn alle schon nach Hause gegangen sind. PKN haben
       dann immer noch Energie: Denn, so sagt es Sami Helle, das Leben sei kurz,
       deshalb darf keine Möglichkeit ausgelassen werden, ihrem Job nachzugehen:
       dem Punk.
       
       Haushoch haben sie die finnische Vorentscheidung gewonnen – und nur nölig
       gesinnte KritikerInnen glauben, das sei aus Mitleid geschehen. Wer den
       Auftritt gesehen hat, erkannte: Sie gewannen, weil sie gut sind,
       authentisch, echt und mit aller Lust dabei. Man glaubte ihnen, nicht so
       eine moralisch preisgünstige Behindertennummer zu geben, man sah in ihnen
       das, was das Leben auch parat hält: Makelhaftigkeit als Voraussetzung, um
       wirklich gut zu werden.
       
       Im Interview nun in Wien erweisen sie sich alle vier als würdige Vertreter
       eines Stils, der auf Unvereinbarkeit mit allem, was Pop sonst ist, setzt.
       Sänger Kari sagt, hält man das Mikro zu ihm hin, ohne jede Spur von
       Zugewandtheit: „No cops, no cops, no men, they say, what i shall do.“ Und
       Samo, der Englischsprechende, fügt hinzu: „Wir finden eigentlich alles, was
       hier an Liedern ist, Mist. Mist, Mist, Mist. Alles.“
       
       Pertti, der Namensgeber, weil er in der gemeinsamen Wohnung – in einem
       betreuten Wohnprojekt in Helsinki – unentwegt Namenstag feiern wollte. So
       kann man den Bandnamen übersetzen: „Perttis Namenstage.“ Ein kleiner Spott
       unter Bandmitgliedern – und Pertti sagt jetzt nicht viel. Samo aber
       berichtet: „Wir feiern nicht mit Champagner, wir feiern nur mit ordentlich
       Scotch.“ Und wozu sind sie überhaupt da, wenn sie alles andere doof finden?
       „Wozu wohl? Um zu gewinnen natürlich, das ergibt doch sonst keinen Sinn.“
       
       Freunde von ihnen, mit angereiste Finnen, sagen, dass man allen Vieren
       anmerkt, dass der Ausflug nach Wien auch eine Last bedeutet. Hier mal ein
       Gig in den USA, in Kanada, in Norwegen, neulich auch in Deutschland, das
       heißt: Hinfahren, Soundcheck, Auftritt, Abgang, Cola trinken oder Kaffee,
       viel schlafen. In Wien heißt es: Fast zwei Wochen hier sein, wenn es mit
       dem Finale klappt – Finnland tritt am Dienstag an, um sich überhaupt erst
       für das Finale zu qualifizieren -, viel Presse, viel Aufmerksamkeit.
       Sozusagen: keine energetische Abfuhr durch den Anlass selbst kurz nach der
       Anreise. Abwarten und Interviews geben also, Partys, Leute treffen, die man
       nicht kennt, sagt Samo, „das ist interessant oder auch nicht“.
       
       PKN singen das kürzeste Lied der ESC-Geschichte: deutlich weniger als zwei
       Minuten, 85 Sekunden. Warum diese Knappheit im künstlerischen Ausdruck?
       Samo und Toni sagen beide: „Punk ist kurz. Was man nicht kurz sagen kann,
       wird auch in der längeren Fassung nicht klar. Punk muss sofort sagen, was
       geht.“ Ihr Lied „Aina mun pitää“ (zu deutsch: Ich muss immer) ist feine
       ätzende Kritik an klassischer Behindertenpädagogik. „Ich muss immer ...“
       zum Doktor gehen, arbeiten, aufstehen, waschen, sprechen … Punk plus PKN:
       Das ist ein Anti gegen süßliches Mitleid und ein Plädoyer für Eigensinn in
       welcher Hinsicht auch immer.
       
       Tex Rubinowitz, der Künstler, schwört auf sie, er hat ihnen eine Art
       Kissenbezug genäht mit ihren Gesichtskonturen. Er glaubt: Nur sie können
       gewinnen. Es wäre, wie im Vorjahr Conchita Wurst, eine Sensation.
       
       16 May 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://youtu.be/xM58kP_JHkQ
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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