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       # taz.de -- ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #4: Schwul, Schwuler, ESC
       
       > Der Eurovision Song Contest hat den Ruf, zur Verschwulung des Kontinents
       > beizutragen – eine tolle Veranstaltung, die auch immer mehr Lesben
       > begeistert.
       
   IMG Bild: Auch heterosexuelle Küsse sind beim CSD, Verzeihung, ESC erlaubt, wie Monika Linkyte und Vaidas Baumila aus Litauen beweisen.
       
       Man darf die Vorwürfe aus türkischen oder russischen Mündern (Erdogan,
       Putin) oder aus solchen deutscher Herkunft (Beatrix von Storch) nicht
       einfach als Papperlapapp zur Seite schieben: Dass der Eurovision Song
       Contest zur Verschwulung der Welt, mindestens der Europas beiträgt. Dass
       man den ESC ablehnen muss, weil zuviele Männer zuviele andere Männer
       begehren und das auch noch nicht verschweigen wollen.
       
       Moskau und Ankara hassen den ESC – wie im Übrigen ja Linke und Alternative,
       weil da ihre Konzepte von Coolness und kultureller Lufthoheit nicht mehr
       funktionieren –, weil er von Homos dominiert wird. Und nein, natürlich kann
       man nicht sagen: Alles Lüge, der ESC ist eine Familienshow, bei der nur
       absolut und ganz bestimmt zufälligerweise sehr viele männliche Homosexuelle
       sich für interessieren.
       
       Ich bin immer dafür, dass man die gegnerischen Argumente ernst nimmt.
       Insofern: Die eurasischen und völkischen Kräfte liegen völlig richtig, der
       ESC ist, was die Zuschauer der Shows (Semifinals & das Finale) anbetrifft,
       tatsächlich sehr, sehr schwul.
       
       Und wer noch nicht live bei einem ESC dabei war: Nein, das Pressezentrum
       ist kein Darkroom in voller Beleuchtung; nein, dort geht es nicht zu wie
       bei einer Party von Andy Warhol im Studio 54, auch ist ein Pressezentrum
       beim ESC kein Hort der Unzüchtigkeit. Um mal Michel Foucault ins Spiel zu
       bringen, den muttervergötternden Homosexuellen mit der Neigung zur
       sexuellen Geheimniskrämerei: Beim ESC geht es um Freundschaft. Um
       Europäisierung, um Neugier, Kontaktaufnahme, Vernetzung.
       
       ## Homofaktor 98 Prozent
       
       Und es geht anders zu als beim Fußball. Bei einer Europameisterschaft
       sitzen auch Journalisten, Blogger und Fotografen zusammen in einem
       Pressebereich, aber beim ESC guckt man gemeinsam die Proben der
       ESC-KünstlerInnen - und applaudiert auch Sängerinnen dann, wenn sie nicht
       aus dem eigenen Land kommen. Gerade, wenn diese Zeilen in den Computer
       formuliert werden, singt die Spanierin Edurne ihr elegisches Lied
       „Amanecer“ - und nach jeder ihrer ersten Proben applaudieren im Saal und im
       Pressezentrum vielhundertfach Journalisten: Man freut sich über das
       Gelingen der anderen. Würden das Heteros beim Fußball machen? Eben.
       
       In Wien arbeiten momentan 3.000 Journalisten aus 57 Ländern, und man darf
       sagen: 98 Prozent sind von ihnen, aus der Perspektive zwangsheterosexueller
       Verhältnisse, anders, als deren Schöpfungsordnung es vorsieht. Man möchte
       allerdings gleich fragen: Gibt es Minderheitenschutz beim ESC im
       Hintergrund? Ja, das darf man sagen. Heterosexuelle Menschen – nach
       aktueller Schätzung im Wiener Pressezentrum des ESC – sollen es fünf sein.
       Erstmals dieses Jahr in nennenswerter Zahl dabei: Lesbische Frauen, vor
       allem aus Spanien. Nicht separiert, sondern in geschwisterlicher
       Verbundenheit mit schwulen Männer zusammen.
       
       Freundschaftlich sind die Begrüßungen, hat man sich akkreditiert als
       Journalist oder Fan. Man pflegt miteinander Kontakt das ganze Jahr über.
       Man könnte sogar zuspitzen: ESC-Interessierte sind, sofern sie in
       überwiegend heterosexuellen Kontexten leben, das ganze Jahr über so lebend
       wie Juden außerhalb von Israel. In Israel selbst ist niemand jüdisch, weil
       es, bis auf die arabischstämmigen Nachbarn, alle sind. Jüdisch ist keine
       besondere Kategorie wie hier beim ESC das Wort „schwul“ oder „lesbisch“
       keine Kategorie des Minoritären ist. Sondern eine kulturprägende Tatsache.
       
       ## Europäisches Projekt
       
       Es ließe sich sogar sagen, dass beim Eurovision Sontg Contest eine Art
       Probebühne des Lebens aufgestellt ist, denn schwule oder lesbische
       Medienschaffende hier in Wien etwa leben ja in ihren Heimatländern nicht
       durchweg unversteckt. Aber hier sehen sie: Man kann mit sich auch
       unverkniffen umgehen, man muss nicht die eigene Lebensperformance für die
       anderen verlügen, um nicht behelligt zu werden.
       
       Damit ist, um wieder auf Moskau und Ankara zu sprechen zu kommen, der ESC
       kein schwules Ding als TV-Show. Keineswegs. Die 195 Millionen
       ZuschauerInnen, die die Shows in der jetzt beginnenden Woche angucken
       werden, sind, nach allem, was man weiß, an guter Unterhaltung, an
       spannenden Punkteauswertungen und an prima Performances interessiert - aber
       heterosexuell orientiert bleiben sie doch.
       
       Gleichwohl: Schwule Männer haben in einer europäisierenden Anstrengung über
       mehrere Jahrzehnte das Ding am Leben gehalten - grenzüberschreitend. Das
       war und ist sozusagen eine Arbeit, von der man in Brüssel nichts weiß. Man
       könnte es als Projekt Europa im Pop verstehen. Und Conchita Wurst ist, so
       gesehen, eine Ikone für ewig: Dass eine Figur wie sie gewinnen konnte, ist
       das wichtigste Indiz, dass Moskau und Ankara nur Kritisches für die
       Zurückgebliebenen formulieren.
       
       17 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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