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       # taz.de -- Flüchtlinge in Eckartsberga: Neue Heimat
       
       > Einige bringen Kuchen mit, wenn sie mit den Flüchtlingen Boccia spielen.
       > Ihr Schicksal ist den Leuten nicht egal, aber sie sind misstrauisch.
       
   IMG Bild: Idyllisch: der Sachsenberg bei Eckartsberga.
       
       „Warum Eckartsberga?“ Den ersten Gedanken, als sie erfuhr, dass Flüchtlinge
       hierher kommen sollen, hat Bürgermeisterin Marlis Vogel sofort wieder auf
       der Zunge. Warum Eckartsberga? Warum nicht Freyburg? Bad Kösen? Bad Bibra?
       Warum wandert der Kelch nicht einfach über die grünen Hügel hier im Süden
       Sachsen-Anhalts weiter ins nächste Städtchen im Burgenlandkreis?
       
       Nein, ausgerechnet Eckartsberga mit seiner mächtigen Eckartsburg, einen
       halben Kilometer vor der Thüringischen Landesgrenze, soll 60 Flüchtlinge
       aufnehmen, verkündete der Abgesandte des Landkreises. Später tat er seine
       Botschaft noch anderen Orten im Kreis kund, Hohenmölsen etwa oder Tröglitz,
       ein Industriedorf 55 Kilometer östlich von hier, das damals keiner kannte.
       
       „Es ist eine Botschaft, die man verdauen muss“, gesteht Marlis Vogel. Die
       ehrenamtliche Bürgermeisterin von der CDU war eben die Rathaustreppe
       hinaufgeeilt. Die Last scheint fort. Seit Oktober 2014 leben 60 neue
       Einwohner aus Afrika, Asien und dem Balkan hier. Allerdings sind sie in dem
       2.000-Einwohner-Städtchen kaum zu sehen. Man trifft sie am ehesten in den
       beiden Discountern.
       
       Die Unterkunft sei etwas abgelegen, der Einkaufsweg weit. Apropos einkaufen
       – gerade bei den kleinen Dingen sei es zu Missverständnissen gekommen,
       erzählt die Bürgermeisterin. „Die Verkäuferinnen haben in den ersten Tagen
       die Türen zugemacht.“ Warum? Die Flüchtlinge wussten nicht, dass man die
       Waren im Einkaufwagen durch die Regalreihen schiebt. Die Kassiererinnen
       fürchteten Ladendiebstahl. Oder die Flüchtlinge sind mit den Fahrrädern,
       die sie geschenkt bekommen haben, falsch in die Einbahnstraße eingebogen.
       Solche Sachen. Richtige Aufreger in Eckartsberga.
       
       ## Ein Aufreger hier: falschrum in die Einbahnstraße
       
       Hier in dem Städtchen hat der Burgenlandkreis seinen Namen verdient:
       liebliche Hügel, hübsche Weinberge und eine zinnenbewehrte Burg, mittendrin
       ein stolzes Rathaus. Unter dem Ecktürmchen sitzt Marlis Vogel und erzählt,
       dass die Gemeinde gegen den Beschluss, hier eine Flüchtlingsunterkunft
       einzurichten, geklagt hatte. Vergeblich. Überhaupt ging alles sehr schnell.
       Mitte August 2014 verbreitete sich die Nachricht in der Stadt, dass in dem
       alten DDR-Pionierlager mit den leerstehenden Gebäuden oben bei der Burg
       Flüchtlinge einziehen sollten.
       
       Im September gab es eine Bürgerversammlung. „Die Leute hatten schon ihre
       Bedenken“, erinnert sich Marlis Vogel. Laubenpieper fürchteten um die Ruhe
       auf ihren Parzellen. Die Stadt sorgte sich um die Idylle im kleinen
       Freizeitpark mit Irrgarten und Dinosauriern. „Wir hatten ja nichts mit
       Ausländern zu tun“, sagt Marlis Vogel. Es klingt wie eine Entschuldigung.
       
       Wenn man die Straße von Naumburg an der Saale entlangfährt mit ihren
       romantischen Gemäuern wirkt es so, als wären sich die Weiler hier seit
       Jahrhunderten selbst genug. Hier reift still der Müller-Thurgau, während
       anderswo Nussschalen übers Meer treiben.
       
       Ob sie bei den Flüchtlingsbildern daran denkt, dass bald einige der
       Passagiere den Weg nach Eckartsberga finden? „Nein!“ Woher die Gewissheit?
       Die „GU“ – so nennt sie die Gemeinschaftsunterkunft – hat mit rund 60
       Flüchtlingen die Kapazitätsgrenze erreicht, erklärt sie. Kurzum –
       Eckartsberga trägt sein Scherflein bei.
       
       ## Vorne die Flüchtlinge, hinten die Suchtkranken
       
       Das weitläufige DDR-Pionierlager hat nach der Wende das Rote Kreuz
       übernommen. Im hinteren Teil betreibt es ein Therapiezentrum für
       Suchtkranke. Vorn dämmerten die grauen zweigeschossigen Bauten vor sich hin
       – bis die Flüchtlinge einzogen.
       
       Yousef, der gerade zur Tür hereinkommt, hat wahrlich andere Sorgen als den
       korrekten Gebrauch des Einkaufswagens. Der 19-jährige Syrer zückt ein
       dickes Kuvert und lässt bereitwillig in die so schwer verständlichen
       Schriftsätze blicken. Das eine aber hat er schnell begriffen. Er soll
       abgeschoben werden. Nicht nach Syrien, aber nach Ungarn.
       
       Seine Odyssee begann im syrischen Homs, beginnt er zu erzählen. „Dort ist
       alles kaputt“, sagt er mit einer Handbewegung. 2013 hat er seine Heimat in
       Richtung Türkei verlassen. Bis Istanbul habe er sich durchgeschlagen. Nach
       einem Jahr ziehen sie zu dritt weiter. „Greece, Macedonia, Serbia“, zählt
       er auf. Schlepper haben sie mit ihren Autos mitgenommen. In Mazedonien
       saßen sie einen Monat im Gefängnis. 17 Stunden brauchten sie, um sich zu
       Fuß nach Serbien durchzuschlagen, fünf Stunden für die nächste Grenze nach
       Ungarn, das Tor in die EU.
       
       „Hungary“ – Was für ein Empfang! Yousef schüttelt den Kopf. Er zückt sein
       Smartphone, wischt Fotos übers Glas. Mit Wollmützen auf dem Kopf kauern sie
       in Schlafsäcken in einem Loch. Zehn Tage wurden sie mit Dutzenden anderen
       Flüchtlingen in einen Keller gesperrt, kein Essen, kein Trinken, dafür aber
       Fingerabdrücke abnehmen. Das habe nichts mit Asyl zu tun, beteuerte die
       ungarische Polizei und ließ sie laufen. Die Reststrecke: Österreich,
       Passau, Deggendorf, Halberstadt. Im März kommt er nach Eckartsberga.
       
       „Yes, I like Eckartsberga“, sagt Yousef und lächelt wie ein Tourist. Die
       Stadt sei nur ein bisschen „small.“ Er lächelt wieder. Überhaupt lächelt er
       viel. Sein Gesicht verfinstert sich nur, wenn er auf die Familie zu
       sprechen kommt. Nein, er habe derzeit keinen Kontakt. Aber Deutschland ist
       das Land, das gut zu ihm ist, glaubt er. Studieren will er und Pilot
       werden. Er deutet verstohlen in den Himmel.
       
       Jetzt muss sich Yousef allerdings mit EU-Bürokratie befassen. Er weiß nun,
       was es mit dem „Dublin-Verfahren“ auf sich hat, das klärt, wo ein
       Flüchtling seinen Asylantrag in der EU stellen muss. Und er weiß, dass es
       eine europäische Datenbank gibt, die Fingerabdrücke sammelt und abgleicht
       und Flüchtlinge dorthin zurückschickt, wo sie erstmals ihre Spuren
       hinterlassen haben. „Ich kann in Ungarn kein neues Leben anfangen“, sagt
       Yousef. „Sie respektieren mich nicht.“
       
       Eigentlich hätte Yousef gute Chancen, in Deutschland Asyl zu erhalten, wenn
       seine Fingerabdrücke nicht in einem ungarischen Computer steckten. Er
       schüttelt den Kopf und hat das amtliche Konvolut zu einer Wurst gerollt,
       als könne er es so zum Schweigen bringen. Der Antragsteller habe zwei
       Wochen Zeit, gegen den Bescheid beim Verwaltungsgericht Magdeburg eine
       Klage in deutscher Sprache einzureichen, steht dort gedruckt. Wie aber
       einen Anwalt finden, wenn kein Geld da ist? Yousef ringt um Fassung. Dann
       schweigt er.
       
       ## Halb Pionierlager, halb Nachtasyl, ein wenig Burg
       
       „Lass uns morgen noch mal darüber reden.“ Sozialarbeiterin Jordis Poppe
       macht dem 19-Jährigen ein wenig Hoffnung. Poppes kleines Büro steht den
       Bewohnern an den Werktagen offen. Zum Team gehört ein Hausmeister und
       Wachschützer, die Rund um die Uhr das Gelände kontrollieren. Auf einer
       Weltkarte hat Poppe begonnen die Heimatländer der Flüchtlinge zu markieren:
       Burkina Faso, Benin, Sudan, Eritrea. Irgendwann scheint sie es aufgegeben
       zu haben. Eben hatte sie noch durch die Flure geführt. 23 Zimmer, zwei
       Gemeinschaftsküchen, Klubraum, Spielzimmer und ein Treppenhaus mit Pinnwand
       – das ist die „GU“, halb Pionierlager, halb Nachtasyl und ein bisschen
       Burg.
       
       „Die Leute kommen wenig aus dem Haus heraus, das ist das Problem“, räumt
       Bettina Plötner-Walter am Abend ein. Ein bisschen scheinen sie wie auf
       einer Burg zu hocken. Umso wichtiger ist es, dort hinaufzugehen, damit die
       Menschen etwas voneinander erfahren und sich nicht nur bei „Netto“ beäugen.
       Als die ersten Flüchtlinge in die Stadt kamen, hat die Pastorin von
       Eckartsberga zum ersten „Café der Begegnung“ eingeladen. Seitdem findet es
       monatlich statt.
       
       Etwa zwanzig potentielle Helfer stehen auf ihrer Mailingliste, wenn fünf
       Zeit haben, ist sie schon zufrieden. Jeder bringt etwas mit, Kaffee,
       Kuchen. „Eine privat organisierte Sache“, nennt es die Pastorin. 15 bis 20
       Flüchtlinge kommen ins Café. Drinnen Brettspiele, im Hof bei gutem Wetter
       Boccia. „Ein Hallo, freundlich Lächeln“ beschreibt die Pastorin ihre
       Aufgabe. Kennenlernen, Ängste abbauen, gemeinsam Kaffee trinken. Ein
       bisschen weniger Fremdeln. Das ist schon viel.
       
       ## Die Leute schenken Kleidung, Räder, Geschirr
       
       Es gibt keine Willkommensinitiative wie in Hohenmölsen, wo sich ein Verein
       um die Flüchtlinge kümmert. Dafür ist Eckartsberga vielleicht auch zu
       klein. Oder zu träge. Aber viele Leute haben doch Bekleidung, Geschirr,
       Plüschtiere, Fahrräder gespendet, der Sportverein lädt Flüchtlinge ein,
       Fußball zu spielen. Kurzum – das Schicksal der Neuankömmlinge ist vielen
       hier nicht einerlei.
       
       „Es gibt natürlich auch viele, die misstrauisch sind, die nichts damit zu
       tun haben wollen“, fährt die Pastorin fort. Es gebe Leute, die grummeln.
       „Aber die werden nicht aktiv.“ Im Unterschied zu Tröglitz. Die Pastorin
       macht das an der Sozialstruktur fest. Während viele Tröglitzer nur ihre
       Mietswohnungen haben und zum Fenster hinausschauen, wenn sie arbeitslos
       sind, greifen die Leute in Eckartsberga zu Hofbesen und Gießkanne. Man hat
       hier ein Haus, Garten, sogar ein Feld.
       
       Die Gegend ist landwirtschaftlich geprägt und sesshaft. „Von zehn Leuten,
       die beerdigt werden, sind sieben hier geboren“, erzählt sie. Die
       Lebensbahnen fließen still dahin, die bukolische Seite des
       Burgenlandkreises hat ihren stabilisierenden Aspekt. Gartenarbeit als
       gesellschaftliche Entlastung. „Die Leute sind nicht übertrieben glücklich,
       auch nicht übertrieben unglücklich“, schließt die Mittvierzigerin und
       lacht. „Die basteln an ihrem Haus.“ Diese Mentalität kann offenbar auch
       nicht der NPD-Kader ändern, der im Verbandsgemeinderat sitzt und der auf
       seiner Homepage mit der Eckartsburg wirbt.
       
       In der Flüchtlingsunterkunft gibt es unterdessen einen Hoffnungsschimmer.
       „Ja, Yousef ist noch hier“, sagt Sozialarbeiterin Jördis Poppe am Telefon.
       Er hat inzwischen einen Anwalt gefunden. Das nächste Café der Begegnung
       findet am 30. Mai statt. Da könnte Yousef seine Geschichte erzählen. Auf
       offene Ohren dürfte er stoßen.
       
       25 May 2015
       
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   DIR Thomas Gerlach
       
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