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       # taz.de -- Obdachlos im Gazastreifen: Leben in Trümmern
       
       > Viele Palästinenser leben neun Monate nach dem Krieg in Hütten. Die
       > internationale Hilfe kam kaum an, Baumaterial ist schwer zu bekommen.
       
   IMG Bild: Ein Junge vor seinem Zuhause in Beit Hanun im Oktober. Seitdem hat sich in der Stadt kaum etwas geändert.
       
       BEIT HANUN / GAZA-STADT / RAFAH taz | Taghrid Schumbari lebt mit ihrem Mann
       und vier kleinen Kindern in einer provisorischen Hütte in Beit Hanun, im
       nördlichen Gazastreifen. Nur ein Eisengerüst trägt das Wellblechdach, die
       Wände sind aus Plastikplanen und Decken. Auf einem aus Baulatten
       gezimmerten Tisch ein Gaskocher. Daneben Wolldecken und
       Schaumstoffmatratzen. Am 22. Juli letzten Jahres geriet das Haus der
       Familie ins Visier eines israelischen Kampffliegers, der es mit einer
       einzigen Rakete dem Erdboden gleichmachte.
       
       In der UN-Schule, wo sie anfangs untergebracht waren, wollten die
       Schumbaris nicht bleiben. Sie investierten die 500 Dollar Soforthilfe in
       die selbstkonstruierte Notunterkunft, in der Hoffnung, dass sie mit
       internationaler Aufbauhilfe bald in ein richtiges Haus ziehen würden. Neun
       Monate nach dem Gazakrieg ist für die ausgebombten Palästinenser noch immer
       keine Hilfe in Sicht. „Ich habe am meisten Angst vor dem Regen“, sagt die
       Mittdreißigerin Taghrid Schumbari. Im Winter sei es oft so schlimm gewesen,
       dass die Kinder vor Kälte zitterten.
       
       Nach Informationen der UNRWA, dem UN-Hilfswerk für palästinensische
       Flüchtlinge, konnte nicht eine einzige der 11.500 während des Krieges
       komplett oder fast zerstörten Wohnungen bislang wiederaufgebaut werden. Die
       Menschen leben in Notunterkünften, in UN-Schulen oder selbstgefertigten
       Hütten. An manchen Stellen ist es nur ein Haus, das gezielt zerbombt wurde,
       an anderen sind es ganze Straßenzüge oder mehrere Parallelstraßen, von
       denen nur Schutthaufen übrig sind.
       
       Elf Familien teilen sich mit den Schumbaris eine Toilette, ein Loch in der
       Erde, abgeschirmt von Steinwänden. Das Abwasser fließt direkt auf die
       Straße. Ein paar hundert Meter weiter wird kostenfrei Trinkwasser verteilt.
       „Die UNRWA hat uns 1.500 Schekel pro Monat versprochen“, sagt Taghrid
       Schumbari – das sind knapp 400 Euro. „Bekommen haben wir nichts.“ Auch die
       islamistische Führung helfe nicht. „Nur wer zur Hamas gehört, bekommt
       Geld“, schimpft sie. Gleich nach Kriegsende zahlte die UN-Flüchtlingshilfe
       einen Mietzuschuss für die ausgebombten Familien.
       
       ## Leere Versprechen
       
       Danach gab es nichts mehr. Der Unmut der leute richtet sich gegen die
       UNRWA, unweit des UN-Hauptquartiers wurde zwei kleine Sprengsätze gezündet.
       Verletzt wurde niemand. Doch auch das Hilfswerk hat schon lange keine
       Mittel mehr. Nur etwa ein Sechstel der veranschlagten 630 Millionen
       US-Dollar für die Soforthilfe ist von den Spendernationen gezahlt worden.
       Mit dem Geld konnten 60.000 teilzerstörte Wohnungen repariert werden,
       einige Schulen und andere öffentliche Einrichtungen.
       
       Doch gerade beim Wiederaufbau der komplett zerstörten Wohnhäuser ist die
       Finanzierung ein Problem. Hilfe in Höhe von 4,3 Milliarden Euro hatten die
       Teilnehmerstaaten bei der Geberkonferenz in Kairo Ende letzten Jahres
       zugesagt, auch um die Infrastruktur wieder in Gang zu setzen. Das Geld
       fließt tröpfchenweise. Im Moment ist nur die Finanzierung von 200 Häusern
       gewährleistet.
       
       Der UNRWA zufolge seien die Besitzer informiert und mit den nötigen
       Genehmigungen zum Kauf von Baumaterial ausgestattet worden. Der
       Wiederaufbau könnte sofort anfangen – vorausgesetzt, die Eigentümer können
       die Arbeiter finanzieren. Wer dazu nicht in der Lage ist, setzt den
       begehrten Zement für ein Vielfaches des Preises auf dem Schwarzmarkt um, wo
       auch die Hamas einkauft.
       
       Israel, die UNRWA und die palästinensische Regierung in Ramallah einigten
       sich unmittelbar nach dem Krieg auf einen Kontrollmechanismus, der
       sicherstellen soll, dass das importierte Material für den Wiederaufbau
       benutzt wird und nicht in die Hände der Hamas gerät. Israels Sorge ist,
       dass die Islamisten erneut Tunnel bauen könnten, um geheime Terrorkommandos
       nach Israel einzuschleusen. Nun begutachtet ein UN-Mitarbeiter den Schaden,
       legt die benötigte Menge für die Reparatur fest und stellt dem Hausbesitzer
       eine Kaufgenehmigung aus.
       
       ## Embargo und Kontrolle
       
       Bislang sind nach offiziellen Zahlen 60.000 teilzerstörte Wohnungen wieder
       instand gesetzt worden. Amjad Shawa, Chef des Netzwerks palästinensischer
       Nichtregierungsorganisationen in Gaza, hält diese Zahl für übertrieben. Der
       Mangel an Baumaterial habe den Gazastreifen in die „schlimmste Notlage“
       geraten lassen. Schuld daran sei das israelische Embargo, das durch den
       Kontrollmechanismus zusätzlich noch verschärft werde.
       
       „Nach dem Krieg bestand die Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft
       der Belagerung ein Ende machen würde“, sagt Shawa, „genau das Gegenteil war
       der Fall.“ Die Frustration im Gazastreifen darüber, dass die Grenzen nach
       wie vor nur sporadisch geöffnet werden, ist groß. Über 2.000 Palästinenser
       waren im Krieg ums Leben gekommen, darunter Hunderte Kinder.
       
       Shawa macht auch die eigene Führung der Fatah und Hamas verantwortlich.
       Schon vor einem Jahr einigten sich die zerstrittenen Parteien auf die
       Gründung der Einheitsregierung und die koordinierte Rückführung der
       Fatah-nahen Sicherheitstruppen in den Gazastreifen, wie es Israel und
       Ägypten für einen geregelten Grenzverkehr zur Bedingung machen. Der Streit
       um Macht und Geld bremst jedoch den innerpalästinensischen
       Versöhnungsprozess.
       
       ## Grenze zu Ägypten
       
       Der Übergang in der südlichen Stadt Rafah ist für den Personenverkehr
       vorgesehen und wird nur sporadisch geöffnet. Anfang Mai blieb das von
       Panzern und Scharfschützen streng bewachte Tor eine Woche lang durchgehend
       zu. Jenseits der Grenze sind seit Anfang des Jahres ebenfalls Hunderte
       Häuser dem Erdboden gleichgemacht worden. Zuerst geben die ägyptischen
       Soldaten Warnschüsse ab, dann zünden sie den Sprengstoff. „Sie vergraben
       die zerstörten Häuser unter Sanddünen“, erklärt ein junger Palästinenser,
       der sich Ahmed nennt, „das reicht.“
       
       Ägyptens Armee soll eine Pufferzone errichten, um den Schmugglertunnels ein
       Ende zu machen, durch die nicht nur harmlose Waren, sondern auch Waffen und
       islamistische Kämpfer in beide Richtungen gelangten. Ahmed schimpft auf den
       ägyptischen Präsidenten. „Abdel Fattah al-Sisi ist verrückt.“
       
       Während des Krieges ist Ahmed mit seiner Familie durch einen Tunnel nach
       Ägypten geflohen. Der athletische 20-Jährige steht auf dem Dach eines
       Hauses und beobachtet zwei Militärjeeps auf der ägyptischen Seite von
       Rafah. Die palästinensische Stadt ist seit 1982, als Israel aus dem Sinai
       abzog, geteilt. Über einem lilafarbenen T-Shirt trägt Ahmed eine gestreifte
       Strickjacke. Seine nackten Füße stecken in Plastiksandalen. „Manchmal
       reißen sie mit einer Sprengladung gleich mehrere Häuser ein.“ 7.000
       Schekel, umgerechnet gut 1.600 Euro, hat er mit dem Schmuggel von
       Zigaretten verdient. Für die Verhältnisse im Gazastreifen ist das ein
       fürstliches Honorar.
       
       Manchmal habe er auch Leute rübergebracht, sagt er. Viele junge Männer
       nahmen das Risiko in Kauf, dass die ägyptischen Grenzsoldaten ein Tunnel
       ohne Vorwarnung sprengen oder unter Wasser setzen. Der Schmuggel hat Rafah
       boomen lassen, bis die ägyptische Regierung letzten Herbst den Kampf gegen
       die unterirdischen Gänge intensivierte. Die Läden und Märkte sind auch
       heute noch reich bestückt, allerdings nicht mehr mit Produkten „Made in
       Egypt“. Früchte, Gemüse, Fleisch, Milchwaren, Softdrinks und Schokolade
       kommen aus Israel. Doch kaum jemand kann sich noch mehr als das Nötigste
       leisten.
       
       ## Die Bannmeile
       
       Die ägyptische Entscheidung für die Errichtung der Pufferzone war Folge
       eines Sprengstoffattentats, bei dem im Oktober unweit von Rafah 30
       ägyptische Polizisten starben. Die Regierung in Kairo wirft der Hamas vor,
       mit den ägyptischen Islamisten zusammenzuarbeiten. Zuerst sollte die
       Bannmeile nur 500 Meter breit sein, inzwischen ist es ein Kilometer und es
       könnte noch mehr werden. Der längste bislang entdeckte Tunnel war 2,8
       Kilometer lang. Eyad Sorub kann verstehen, dass „die Ägypter sich schützen
       müssen“.
       
       Der 39-Jährige gehörte zur Leibgarde des Fatah-nahen Gouverneurs von Gaza,
       Abdallah Frangi, des früheren PLO-Vertreters in Deutschland. Seit der
       Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen darf Sorub nicht mehr arbeiten,
       sein Gehalt bekommt er trotzdem weiter. „Um nicht den ganzen Tag
       rumzusitzen“, habe er den Job als Bauarbeiter angenommen. Auch seine
       Angehörigen auf der ägyptischen Seite von Rafah hätten ihr Haus räumen
       müssen. „Die Familien werden entschädigt“, erklärt Sorub. Offiziell zahlt
       Ägypten je nach Größe des Hauses einige Tausend Dollar Wiedergutmachung und
       einen Mietzuschuss für drei Monate.
       
       Dass die Tunnel eingerissen werden, findet Sorub richtig. Letztendlich
       hätte doch nur die Hamas davon profitiert. Die Hamas zog Steuern ein auf
       die Schmuggelware. Trotzdem waren die unterirdischen Transportwege wichtig
       für die Menschen in Gaza, die billigere Produkte oder Material aus Ägypten
       kauften, weil es aus Israel gar nicht oder nur unzureichend kommt.
       
       Kerem Schalom ist der einzige Übergang für den Warentransport. Rund 500
       Lastwagen aus Israel liefern täglich Lebensmittel, Medikamente und auch
       Baumaterial, wenn es bestellt, bezahlt und genehmigt ist. Solange die
       zugesagten Spendengelder nicht eintreffen, muss Taghrid Schumbari mit ihrer
       Hütte zurechtkommen. Sie erwartet ihr fünftes Kind, das im Herbst geboren
       werden soll. Gerade, wenn es wieder kalt wird.
       
       25 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Knaul
       
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