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       # taz.de -- Fußballer mit geistiger Beeinträchtigung: Nationalspieler dringend gesucht
       
       > Das deutsche Auswahlteam für Fußballer mit geistiger Beeinträchtigung
       > braucht neue Spieler. Oft wird eine Berufung als Makel betrachtet.
       
   IMG Bild: „Die Spieler leben von der Emotionalität, sowohl in der Freude als auch in der Trauer.“
       
       JOACHIMSTHAL taz | Jörg Dittwar nimmt das Mikrofon in die Hand und sagt:
       „Wir sind auf der Suche nach neuen Spielern.“ Der Trainer der deutschen
       Nationalmannschaft für Fußballer mit geistigen Beeinträchtigungen ist mit
       seinem Assistenten Herbert Harrer für ein Sichtungsturnier nach
       Joachimsthal nahe Berlin gefahren. Er spricht zu rund 130 Teilnehmern.
       
       „Wir suchen Teamplayer, vielleicht hat es auch das ein oder andere Talent
       dabei“, macht er den Anwesenden Hoffnung auf eine Einladung der
       Nationalmannschaft. Das Turnier, das von einem Pflegeprodukt-Hersteller
       organisiert wird, findet jährlich in Joachimsthal statt. Dieses Mal haben
       sich 22 Teams angemeldet. Es gibt ein Rahmenprogramm mit Party, für
       Anreise, Unterkunft und Essen sorgt das Unternehmen.
       
       Über die Spielfelder sind laute Jubelschreie zu hören, die Spieler feiern
       gelungene Abwehraktionen, als seien es ihre eigenen Tore. Von denen gibt es
       viele. Gerade die Torhüter haben Probleme damit, auch von langsamen
       Schüssen die Flugkurve zu erkennen und im richtigen Moment zu parieren.
       
       Dittwar beschreibt eine Situation aus einem WM-Spiel. Freistoß nahe der
       Eckfahne. Es droht keine unmittelbare Gefahr. Die Abwehr stellt dennoch
       eine Fünf-Mann-Mauer, vor dem Tor stehen die Angreifer frei. Die Hereingabe
       kommt, einer der Stürmer netzt problemlos ein. Die Szene, erinnert sich der
       ehemalige Stürmer des 1. FC Nürnberg, „war bei der WM in Holland. Ich war
       etwa drei Monate im Amt.“ Zwar habe er damals seiner Mannschaft
       aufgetragen, bei Freistößen des Gegners eine Fünf-Mann-Mauer zu stellen –
       aber natürlich nicht bei Standards aus ungefährlichen Lagen.
       
       ## IQ-Leistung unter 75
       
       So hat der 51-Jährige gelernt, seinen Spielern ganz genaue Anweisungen zu
       geben. Das klappt am besten, indem sie es ganz praktisch trainieren: „Wir
       trainieren ganz einfache Übungen, die auch Zwölfjährige machen. Man muss
       alles zeigen und vormachen, weniger an der Taktiktafel erklären.“ Im Moment
       arbeite er mit seinem Team an einer Umstellung auf eine Vierer-Abwehrkette.
       „Das können wir auch im Training üben, aber da haben wir keine Gegner. Im
       Spiel dann gibt es Probleme, wenn ein Gegner in eine Lücke der Kette
       dribbelt, da gehen meine Leute nicht in den Zweikampf.“
       
       Dittwar hat mit der Zeit gelernt, dass für seine Spieler bestimmte Dinge
       schwer oder nicht umsetzbar sind. Um in der Nationalmannschaft spielen zu
       dürfen, müssen die Fußballer Voraussetzungen erfüllen. Anhand des
       schulischen Werdegangs wird geprüft, ob eine geistige Behinderung vorliegt.
       In diese Bewertung fließt auch ein psychologisches Gutachten mit ein. Mit
       einem sogenannten Wechseltest wird der Grad der geistigen Behinderung
       festgestellt. Die IQ-Leistung muss dann unter 75 liegen.
       
       Ein Bestandteil des Tests: Der Spieler darf eine neue fußballtechnische
       Übung am nächsten Tag nicht mehr nachvollziehen können. „Durch Training
       aber können wir eine Empirie in den Köpfen erstellen, sodass der Spieler es
       mithilfe der Erinnerung richtig macht“, erklärt Co-Trainer Herbert Harrer.
       Menschen mit geistigen Behinderungen hätten heute mehr Möglichkeiten, sich
       zu entwickeln, meint Harrer: „Einen Führerschein können sie mittlerweile
       auch machen, das ging früher nicht. Der Sport entwickelt die Leute weiter.“
       
       Emotionen spielen eine große Rolle im Spiel der Fußballer mit geistigen
       Beeinträchtigungen. „Die Spieler leben von der Emotionalität, sowohl in der
       Freude, als auch in der Trauer“, sagt Harrer. Deshalb könne man die Spieler
       mit motivierenden Ansprachen vor dem Spiel sehr gut erreichen, betont
       Dittwar.
       
       ## Nur acht Tage Training im Jahr
       
       Die beiden Nationaltrainer haben bei ihrer heutigen Sichtung erste
       Eindrücke gesammelt: „Es gibt hier drei, vier talentierte Spieler. Rein von
       den technischen Fähigkeiten müsste es bei diesen Spielern reichen“, sagt
       Dittwar. Harrer gibt zu bedenken: „Die Frage ist: Haben sie die
       Voraussetzungen, um weiter trainiert zu werden?“ Mit einer Einladung zu
       Trainingslehrgängen und der Erfüllung der Voraussetzungen bekommen die
       Spieler einen Fuß in die Tür der Nationalmannschaft.
       
       Zahlreiche Länderspiele, um sich zu präsentieren, gibt es für die
       Nationalmannschaft der Spieler mit geistiger Beeinträchtigung nicht. Man
       trainiert nur acht Tage im Jahr. Harrer bemängelt: „Das ist aufgrund der
       mangelnden kognitiven Leistung zu wenig, um Automatismen einzuüben. Andere
       Spieler müssen neue Elemente 30 Mal üben, unsere Spieler jeweils fünfmal so
       oft, also 150 Mal.“
       
       Internationale Turniere wie Europa- und Weltmeisterschaften sind die
       Höhepunkte für die Spieler. Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika
       haben die beiden Trainer mit dem sechsten Platz Erfahrungen gesammelt.
       „Danach hat Südafrika Geld in die Hand genommen, gibt mittlerweile
       zwanzigmal mehr für Fußballer mit geistiger Beeinträchtigung aus als wir.
       Die haben uns mittlerweile überholt, haben durch das Geld mehr
       Trainingsmöglichkeiten“, sagt Harrer. Dittwar wünscht sich Unterstützung
       vom größten Fußballverband: „Die Fifa nimmt viel Geld ein, aber hat dann
       kein Geld für diese Mannschaften. Da würde eine Million Euro im Jahr
       reichen für alle Teams.“
       
       Das Halbfinale zu erreichen, sei das Ziel der nächsten Turniere.
       Verstärkungen dafür sind vorerst nicht in Sicht: „Es gibt bestimmt in
       höheren Amateurklassen sehr gute Spieler, aber die schickt niemand zu
       unserer Nationalmannschaft. Das wird nämlich immer noch als Makel gesehen“,
       bemängelt Harrer. Man stehe erst am Anfang der Entwicklung. „Es wird noch
       20 Jahre dauern, bis wir mit dem Sport dahin kommen, wohin wir wollen.“
       
       25 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Raviol
       
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