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       # taz.de -- Zum 70. Geburtstag Fassbinders: Alles andere als normal
       
       > Rainer Werner Fassbinder gilt vielen als Prototyp des linken Antisemiten.
       > Heute fehlt sein schonungsloser, provozierender Blick.
       
   IMG Bild: Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, protestiert 1985 gegen „Der Müll, die Stadt und der Tod“.
       
       Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“
       (1975) mit seiner Figur des „Reichen Juden“ zählt zum Kanon des
       bundesrepublikanischen Antisemitismus. Viele jüdische Freunde nennen
       Fassbinder verächtlich „Müllbinder“. Sie würden ihn nie lesen, seine Filme
       nie schauen. Er verschlimmere das Trauma. Wäre Fassbinder heute am Leben,
       hätte er noch vor Jakob Augstein seinen Platz in der Liste der prominenten
       Antisemiten sicher. Womöglich wäre ihm wie Günter Grass die Einreise nach
       Israel verweigert worden.
       
       Fassbinders grenzwertige Äußerungen und seine Methode, antisemitische
       Vorurteile mit eben solchen zu bekämpfen, würde ich nicht verteidigen.
       Nein, ich würde sein Streben verteidigen, gesellschaftliche und politische
       Diskursräume zu öffnen, auch dort, wo es wehtut: beim Thema Juden und
       Deutsche nach dem Holocaust. Etwas, das heute fehlt.
       
       Bei den Protesten zur Uraufführung im Frankfurter Schauspielhaus im Herbst
       1985 gab es ein Banner, auf dem stand: „Subventionierter Antisemitismus“.
       Gemeint war der mit Steuergeldern subventionierte Inhalt des Stücks.
       Antisemitisch oder nicht, hatte es eine entscheidende Nebenwirkung: Das
       Recht der Opfer, geschont zu werden, wurde im Zusammenhang mit Fassbinders
       Stück zu einem Politikum der gesamten Bundesrepublik. Es meldeten sich zum
       ersten Mal öffentlich seit 1945 die Juden selbst zu Wort.
       
       Heute schauen wir uns die mit Millionenbudgets gemachten, unendlich langen
       öffentlich-rechtlichen TV-Produktionen an, in denen die Tragödien des
       Zweiten Weltkriegs als eine Art Erinnerungswellness inszeniert werden. Die
       jüdischen Figuren werden hier aus Angst mit Zuckerguss überzogen, statt als
       komplexe Menschen mit guten und schlechten Seiten dargestellt. Sieht man
       das, möchte man wieder demonstrieren gehen, aber dieses Mal ein Banner
       entrollen, auf dem „Subventionierter Philosemitismus“ steht.
       
       ## Diskursräume eröffnen
       
       Der Philosemitismus versiegelt genau jene Räume, die Fassbinder vor 40
       Jahren mit dem Vorschlaghammer eines getriebenen Genies zu öffnen
       versuchte: Er hat auf dramatische Ambivalenzen des deutsch-jüdischen
       Verhältnisses nach dem Holocaust hingewiesen. Der Denkschweiß der
       Beteiligten, von dem Benjamin Korn in seinem Essay über die
       Fassbinder-Kontroverse schrieb, ist heute weg. Es bleiben lediglich der
       Angst- und Karriereschweiß übrig. Vielleicht noch der Anpassungsschweiß.
       
       Zurzeit ist etwas zu beobachten, das auf den ersten Blick seltsam anmutet:
       Theateregisseure und -regisseurinnen jüdischer Herkunft werden für
       „jüdische“, antisemitische oder zumindest unter Antisemitismusverdacht
       stehende Stücke engagiert. Sie wählen sich diese Stücke nicht selbst aus,
       sie werden gezielt gefragt. So wurde „Der Kaufmann von Venedig“ 2010 im
       Schauspielhaus Frankfurt, dort also, wo „Der Müll, die Stadt und der Tod“
       uraufgeführt werden sollte, von einem „jüdischen Regisseur“ inszeniert – so
       ein Teil der damaligen PR-Kampagne. Der Australier und heutige Berliner
       Barrie Kosky sollte bei dieser Inszenierung de facto als Jude agieren. Ein
       „Alibi-Jude“ für Shylock?
       
       Wie steht es um das Fassbinder-Stück heute, nachdem es 2009 in einer stark
       entschärften Form in Mülheim an der Ruhr uraufgeführt wurde? Mir scheint,
       dass die neue Volksbühne, die unter Chris Dercon unter anderem auf Tanz
       setzen wird, ein guter Ort für diese für Berlin (wie für Frankfurt)
       notwendige Inszenierung wäre: Die manchmal faschistoide, fäkale,
       pornografische und gleichzeitig unendlich lyrische Sprache des Stücks wird
       wohl auch heute zum Teil ausgespart werden müssen. Aber vielleicht kann sie
       getanzt werden.
       
       Für Fassbinder war die zeitgenössische bundesrepublikanische Gesellschaft
       seiner Zeit kaputt. Die jüdischen Figuren in „Die Sehnsucht der Veronika
       Voss“ (1982), „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) und vor allem in „In einem
       Jahr mit dreizehn Monden“ (1978) sind ebenso kaputt, sie sind ähnlich wie
       die Nichtjuden ein Teil des gesellschaftlichen Spiels um Macht, Sex und
       Gier, das die Menschen zerstört. Das sollte eigentlich ganz normal sein.
       
       Doch im heutigen Deutschland wird den Juden fast ausschließlich die
       Opferrolle zugeschrieben. Künstlerisch betrachtet gibt es die Rolle des
       Juden als vollwertige Schauspielrolle, mit allem, was zu den menschlichen
       Komödien und Tragödien dazugehört, nicht. Sie sind ausgeschlossen. Im
       medialen philosemitischen Brei tauchen sie bestenfalls auf als diffuse
       Schatten, als gefürchtete Statisten. Die Frage, ob man das Wort „Jude“ in
       den Mund nehmen darf, steht leider nach wie vor im Vordergrund.
       
       ## Provokantes Spiel
       
       Anders bei Fassbinder. Er provoziert bis heute. Sein Frankfurter
       Immobilienmakler – Anton Saitz aus den „Dreizehn Monden“, in dem ein viel
       prosaischerer „Reicher Jude“ deutlich zu erkennen ist – hatte ein Codewort
       für sein Büro in einem leeren Frankfurter Hochhaus. Dieses lautete
       „Bergen-Belsen“. Das war der 1-a-Code, mit dem sofort Zugang gewährt wurde.
       Dieses provokante Spiel mit dem Holocaust brachte Fassbinder zu Recht viele
       Vorwürfe ein.
       
       Doch seien wir ehrlich: Ist „Auschwitz“ heutzutage nicht zu einer viel
       trivialeren Floskel geworden, zu einem Codewort, mit dem vieles zelebriert,
       aber immer seltener etwas erklärt und verstanden wird? Ist ein
       gesellschaftliches Drama um eine deutsche Figur namens Erwin/Elvira
       Weishaupt, die aus Liebe zu einem zerstörten und machtbesessenen
       Überlebenden ihr Geschlecht ändert und dabei vor die Hunde geht, nicht
       ehrlicher als die obligatorischen „Nie wieder!“-Rufe am 9. November und 27.
       Januar? Die laufen doch nur auf eines hinaus: Das sind und waren nicht wir.
       Damals nicht. Und heute, bei den Gazakrieg-Demos mit Slogans wie „Jude,
       Jude, feiges Schwein“, auch nicht. Das sind andere – „die da“.
       
       Fassbinder fehlt. Und der Immobilienmakler und spätere Zentralratspräsident
       Ignatz Bubis, den Fassbinder wahrscheinlich mit seiner Figur des „Reichen
       Juden“ meinte, fehlt auch. Jener Bubis, der von Martin Walser 1998 in der
       Paulskirche aus dem deutschen Kollektiv ausgeschlossen wurde: die
       „Holocaust-Keule“. Jener Bubis, der einige Male öffentlich betonte, ohne
       jedoch Fassbinders Sprache zu benutzen: Opfer sein macht einen nicht
       zwingend zum besseren Menschen.
       
       Fassbinder ist seit 1982 tot. Bubis starb 1999. Das Frankfurter Westend, um
       das es damals ging, grenzt sich heute nicht mehr durch Kämpfe mit der
       Hausbesetzerszene, sondern durch hohe Mietpreise ab. Gebäude wie das
       ehemalige Suhrkamp-Haus aus den 1960er/1970er Jahren, natürlich nicht die
       Gründerzeitvillen, werden abgerissen. Auch das Ostend, damals die
       bezahlbare Hoffnung von Einwanderern wie „El Hedi Ben Salem M’Barek
       Mohammed Mustafa, den alle einfach Ali nennen“, dem Helden von „Angst essen
       Seele auf“ (1974), wird durch das neue Gebäude der Europäischen Zentralbank
       gentrifiziert.
       
       Viele „Alis“, aber auch „Emmas“, müssen ausziehen. Die vermummten
       Aktivisten greifen nicht mehr den „Reichen Juden“, sondern das gesichtslose
       globale Kapital an (das für viele von ihnen dann doch wieder ein „jüdisches
       Gesicht“ hat) – und zerstören dabei die Zäune, Haltestellen und Straßen der
       einfachen FrankfurterInnen.
       
       ## Großer Wert des Judentums
       
       Unter den „russischen“ Juden, die zu 90 Prozent das deutsche Judentum von
       heute ausmachen, ist Fassbinder, dessen Filme fast komplett auf Russisch
       vorliegen, populär. Diese Menschen kennen aus der Sowjetunion einen ganz
       anderen, viel intensiveren Antisemitismus und verzeihen Fassbinder, wenn
       Juden manchmal heimtückisch oder ambivalent (wie in „Lili Marleen“, 1981)
       dargestellt werden. Fassbinder, finden sie, hat eine neue Gefühlswelt
       geschaffen bezeihungsweise die existierende radikal politisiert und
       poetisiert. Ein enger Freund von mir, ein intellektueller postsowjetischer
       Jude der älteren Generation, gestand mir seine Liebe zu Fassbinders Filmen
       und betonte: „Aber die schwulen Szenen bei ihm, das kann ich nicht
       ertragen, da schalte ich einfach weg“.
       
       Alfred Biolek erinnert sich in seinen Memoiren an ein Gespräch zwischen
       ihm, Fassbinder und Kurt Raab. Fassbinder sagte zu Raab, er, Kurt sei „nur
       schwul“, während Bio immerhin „Jude und schwul“ sei. Biolek, der nicht
       jüdisch ist, witzelte: „Ich habe nur ein intelligentes Gesicht.“ Doch man
       merkt: Judentum stellte für Fassbinder auch einen großen Wert dar, selbst
       wenn dabei zahlreiche philo- und antisemitische Klischees unsortiert
       bedient wurden und nichts „normal“ blieb.
       
       Dan Diner bemerkte im Dezember 1985 in links, dass es bei der Kontroverse
       um die „Normalität in Deutschland“ gehe, zu der alltäglicher Antisemitismus
       gehöre. Zu der heutigen „Normalität“ sollte ein politisches und
       künstlerisches Gespräch über Fassbinder und die Juden gehören. Offen, aber
       einfühlsam, denn viele sind noch da, die sagen dürfen: „Ich kann das nicht
       ertragen.“
       
       30 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dmitrij Belkin
       
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