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       # taz.de -- Preisträger des Festival Cannes: Untiefen im Programm
       
       > Das Festival von Cannes überraschte mit einer wenig treffsicheren Jury.
       > Umso erfreulicher, dass Regisseurin Agnès Varda für ihr Lebenswerk geehrt
       > wurde.
       
   IMG Bild: Ein Siegerfilm, aber auch der beste dieses Jahr in Cannes? Szene aus „Dheepan“.
       
       CANNES taz | Mit einer Überraschung gingen die 68. Filmfestspiele von
       Cannes zu Ende. Die Goldene Palme erhielt am Sonntag Abend „Dheepan“ von
       Jacques Audiard, ein Film, der nicht als Favorit galt. Der französische
       Regisseur erzählt von drei Menschen aus Sri Lanka, die sich als Familie
       ausgeben, damit sie die Insel verlassen und in Europa Asyl beantragen
       können.
       
       Einer von ihnen, Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), ist Kämpfer der Tamil
       Tigers. In den ersten Szenen sieht man, wie Leichen verbrannt werden und er
       neben dem Feuer steht, einmal hält die Kamera auf einen Schädel, in dem
       Flammen lodern; später erfährt man, dass Regierungstruppen Dheepans Einheit
       und Familie getötet haben.
       
       Auch die anderen beiden Figuren, Yalini (Kalieaswari Srinivasan) und
       Illayaal (Claudine Vinasithamby), hält die Erinnerung an den Bürgerkrieg im
       Würgegriff. Die drei landen in einer Cité am Rand von Paris, in einer üblen
       Gegend, Drogen-Gangs beherrschen sie.
       
       Dheepan wird Hausmeister, Yalini kocht für einen älteren, auf Hilfe
       angewiesenen Mann, Illayaal geht in die Schule, für Augenblicke wird aus
       den vorgetäuschten Familienbanden echte Zuneigung, dann wieder verzweifelt
       jeder der drei auf seine Weise an der Zwangsgemeinschaft.
       
       An mehreren Abzweigungen verlässt Audiard die Pfade des Sozialrealismus,
       indem er zum Beispiel eine Einstellung in den Bilderfluss hineinmontiert,
       die den Kopf eines alten Elefanten im nächtlichen Wald zeigt, oder indem er
       impressionistische Spiele mit Lichtflächen und –punkten vor schwarzem
       Hintergrund treibt. Außerdem gibt er der Kriegserfahrung der männlichen
       Hautptfigur einigen Raum, was in einer Sequenz gipfelt, in der Dheepan Amok
       läuft.
       
       ## Viele Zweifel, wenig Überraschung
       
       Audiard, der zuletzt „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012) drehte,
       versucht hier ohne Zweifel etwas Interessantes: Je mehr er den
       Protagonisten als Krieger anlegt, umso weiter ragt ins Flüchtlingsdrama der
       Genrefilm. Der Asylbewerber erscheint bei Audiard nicht als auf Hilfe und
       Almosen angewiesene Figur, sondern als jemand, der, so es darauf ankommt,
       viel Handlungsmacht hat. Trotzdem hinterlässt der Film viele Zweifel,
       zunächst einmal, weil der Regisseur kein Meister der dichten Beschreibung
       ist; über den Alltag der drei Flüchtlinge erfährt man nichts, was man sich
       nicht ohnehin schon hätte denken können.
       
       Zudem wirft der Film die Frage auf, wie das Kino auf Leute blickt, die am
       Rand der Gesellschaft existieren, ohne dass er eine befriedigende Antwort
       darauf fände. Zumal es nicht viel bösen Willen braucht, um in „Dheepan“
       eine Angstfantasie zu erkennen. Dort draußen in der Cité, da herrschen die
       Kriminellen, da schaffen die Söhne und Enkel der Einwanderer aus Nordafrika
       eine gesetzlose Zone, und wenn diese dann auch noch von einem Flüchtling
       mit im Dschungelkampf erworbenen Fertigkeiten erobert wird, dann Gnade uns
       der gallische Hahn.
       
       In seinem Mangel an Treffsicherheit passt das Jury-Votum gut zu einem
       Festival, das selbst viele Untiefen barg. Das diesjährige
       Wettbewerbsprogramm war voller Enttäuschungen, angefangen bei „Mon roi“ von
       der französischen Regisseurin Maïwenn; eine Frau ohne Selbstbewusstsein,
       gespielt von Emmanuelle Bercot, verfällt darin einem Mann mit
       aufgeplustertem Selbstbewusstsein (Vincent Cassel), und es dauert fünf
       Minuten, bis man merkt, dass die Erforschung der heterosexuellen Liebe, der
       sich das französische Kino oft und bisweilen mit großer Virtuosität widmet,
       hier kolossal nervt.
       
       ## Wuchernde Platitüden
       
       Gus Van Sant verirrt sich mit seinem Film „Sea of Trees“ in einem Wald, in
       dem die Platitüden wuchern, Denis Villeneuve findet im Kartell-Thriller
       „Sicario“ nichts weiter dabei, die DEA mit einem Abgesandten des
       Medellín-Kartells kooperieren zu lassen, weil der die mexikanischen
       Drogenbosse in Schach hält, frei nach dem Motto: „Er ist ein Hurensohn,
       aber er ist unser Hurensohn“.
       
       Problematisch ist schließlich auch „Saul fia“ („Sohn of Saul“), das Debüt
       des ungarischen Regisseurs László Nemes, das mit dem Großen Preis der Jury
       belohnt wurde. Der Spielfilm, im Sommer 1944 in Auschwitz-Birkenau
       angesiedelt, schaltet sich in die Diskussion um die Darstellbarkeit der
       Shoah ein, indem er die Kamera um den Protagonisten herum wirbeln lässt und
       die Abläufe der Vernichtung an den Bildrand oder in die Unschärfe verbannt.
       
       Man könnte sich auf dieses Verfahren einlassen, erführe man wirklich etwas
       über das Vernichtungslager, was man noch nicht gewusst hätte. Aber das ist
       nicht der Fall, weshalb „Saul fia“ etwas Spekulatives anhaftet, und das
       löst vor dem Hintergrund der historischen Wirklichkeit von
       Auschwitz-Birkenau Beklemmung aus.
       
       Zum Glück wandte sich die Jury, der die Brüder Joel und Ethan Coen
       vorsaßen, nicht vollständig von den gelungenen Wettbewerbsfilmen ab. Der
       Preis für die beste Regie ging an den taiwanesischen Filmemacher Hou
       Hsiao-Hsien, dessen period piece „Nie Yinniang“ („The Assassin“) von einer
       Schönheit ist, die einem den Atem verschlägt; man hätte Hou aus vollem
       Herzen die Goldene Palme gewünscht.
       
       Den Preis der Jury erhielt der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos für
       seine verspielt-dystopische Zukunftsfantasie „The Lobster“, und auch Todd
       Haynes‘ elegantes Drama „Carol“ ging nicht ganz leer aus, da Rooney Mara
       den Preis für die beste Darstellerin entgegennahm (ex aequo mit Emmanuelle
       Bercot, die in „Mon roi“ ausdauernd heult, schluchzt, tobt oder ein Gesicht
       zieht).
       
       ## Besondere Filme in den Nebenreihen
       
       Der unebene Wettbewerb sollte zudem nicht vergessen lassen, wie viele
       besondere Filme man in diesem Jahr in Cannes sehen konnte, sobald man die
       Nebenreihen besuchte, vor allem die Quinzaine des réalisateurs. Miguel
       Gomes’ dreiteilige, mehr als sechs Stunden dauernde freie Adaption der
       „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“, „As mil e uma noites“, ragt nicht
       zuletzt deshalb hervor, weil ihr eine überzeugende Antwort auf die Frage
       gelingt, die auch bei Audiard anklingt.
       
       Gomes’ Streifzüge durch das von den Sparmaßnahmen versehrte Portugal führen
       zu Arbeitslosen, Vorstadtbewohnern, Rentnern und frisch entlassenen
       Werftarbeitern; diese werden jedoch nie als Opfer von Umständen
       präsentiert, sondern stellen sich selbst als unermüdliche Produzenten von
       Geschichten, Fiktionen und elaborierten Zeitvertreiben dar. Die dichte
       Beschreibung von Lebensumständen gelingt Gomes spielerisch, unter anderem,
       weil er ein großes Interesse an proletarischen Vergnügungen hegt und dabei
       zutage fördert, wie reich an Raffinement und Eloquenz diese sein können.
       
       Daneben bestachen zum Beispiel Apichatpong Weerasethakuls „Rak Ti Khon
       Kaen“ („Cemetery of Splendour“), Arnaud Desplechins „Trois souvernirs de ma
       jeunesse“ oder Ciro Guerras „El abrazo de la serpiente“ („Embrace of the
       Serpent“). Dass das neue rumänische Kino viel Kraft besitzt, bezeugten Radu
       Muntean mit „Un etaj mai jos“ („One Floor Below“) und Corneliu Poromboiu
       mit „Comoara“ („Treasure“), einer bitterbösen und herrlich verschleppten
       Komödie über die Dumpfheit postsozialistischer Träume. Und das, was „Mon
       roi“ so überhaupt nicht glücken wollte, die Auseinandersetzung mit den
       Abgründen der Liebe zwischen Männern und Frauen, gelang Philippe Garrels
       Schwarzweißfilm „L’ombre des femmes“ mit leichter Hand.
       
       Am Samstag schließlich hatte man dann noch Gelegenheit, der umwerfenden
       Agnès Varda zuzuhören. In einer Suite im siebten Stock des Hotels
       Majestic-Barrière sprach der Filmkritiker Jean-Michel Frodon mit der 86
       Jahre alten Filmemacherin, die am Sonntagabend eine Goldene Plame für ihr
       Lebenswerk erhielt. Der Rahmen der Veranstaltung war das Programm „Women in
       Motion“, das der neue Festival-Sponsor, die Kering-Gruppe, lanciert hat.
       
       Varda erinnerte daran, wie es war, als die Nouvelle Vague noch nicht
       erfunden war und sie an ihrem ersten Filmprojekt, „La pointe courte“ (1955)
       arbeitete. Wenn es in der Literatur James Joyce und John Dos Passos gibt,
       habe sie sich damals gedacht, warum findet sich dann nichts Vergleichbares
       im Kino? Ein Filmausschnitt aus „Uncle Yanko“ (1967), in dem eine
       Begrüßungsszene mehrmals wiederholt und variiert wird, untermauert, was
       Varda meint, und zeigt zugleich, wie selbstverständlich das Experimentelle,
       das Selbstreflexive, das Nicht-Narrative damals zu dem gehörten, was man
       unter Kino verstand. Schade, dass diese Selbstverständlichkeit verloren
       gegangen ist.
       
       Schade auch, dass Varda in die „Women in Motion“-Sparte abgeschoben wurde,
       statt eine Masterclass in der Salle Debussy zu geben, wie dies in der
       Vergangenheit Regisseure wie Martin Scorsese oder Marco Bellocchio getan
       haben. Sie selbst berief sich am Samstag Vormittag auf die Gefängnisbriefe
       des italienischen Philosophen Antonio Gramsci: Es gelte, ein Pessimist im
       Verstand und ein Optimist im Willen zu sein.
       
       25 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
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