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       # taz.de -- Kurden kämpfen gegen den IS: Ausharren und verteidigen
       
       > In der Gegend rund um das Sindschar-Gebirge wehren sich kurdische Gruppen
       > gegen den Islamischen Staat. Das Zweckbündnis ist brüchig.
       
   IMG Bild: Jesidische Flüchtlinge im Flüchtlings-Zeltlager in der Kurdenregion Dohuk im Nordirak.
       
       Scherfedin taz | Von dem jesidischen Heiligtum Scherfedin im Nordirak aus
       dauert die Autofahrt nur eine Viertelstunde, bis man mehrere unscheinbare
       Stein- und Erdhügel erreicht. Schamo, ein 58-jähriger Scharfschütze der
       jesidischen Selbstverteidigungskräfte, schaufelt mit seinen Händen etwas
       Erde zur Seite und legt einen menschlichen Knochen frei.
       
       „Hier gibt es gut ein Dutzend Massengräber mit Hunderten Ermordeten“,
       erläutert Schamo. „Sie haben alle Bewohner der umliegenden Dörfer an diesem
       Ort zusammengetrieben. Die Frauen auf die eine Seite, die Männer auf die
       andere.“ Sie, das sind die Milizionäre des Islamischen Staates (IS).
       
       Bei genauerem Hinsehen sieht man Kleiderfetzen und kaputte Handys neben den
       Erdhügeln liegen. „Dann haben sie alle Männer erschossen, bei den Frauen
       nur die Alten“, fährt Schamo fort. „Die jungen Frauen wurden nach Mossul
       und Syrien gebracht. Wir mussten aus der Ferne zusehen, konnten aber nicht
       eingreifen, weil wir nicht genug Waffen und Munition hatten. Es war
       grausam.“
       
       Schamo und weitere jesidische Kämpfer deckten die Massengräber mit Steinen
       ab, als Schutz vor streunenden Hunden. Die Männer hoffen, dass eines Tages
       eine internationale Untersuchungskommission die Verbrechen dokumentiert.
       
       ## Gedanken an Rache und Selbstjustiz
       
       Bei vielen Kämpfern schimmert im Gespräch ohnmächtige Wut durch. Wie bei
       Hadi, einem Jesiden aus einem Nachbardorf von Scherfedin: „Ich verachte
       alle Araber. Mit ihnen kann man nicht mehr zusammenleben. Denn sie haben
       uns an den IS verraten.“ Manche seiner Freunde fordern auch Rache. Doch
       bisher konnte Qasim Schescho, Kommandeur von gut 3.000 jesidischen
       Kämpfern, jede Form von Selbstjustiz in Schach halten.
       
       „Wir werden weiter kämpfen, bis der IS besiegt ist. Aber wir bekommen nur
       genug Waffen, um uns selbst zu verteidigen, und nicht, um eigene Offensiven
       durchzuführen“, erklärt Schescho. „Wir haben letztes Jahr, als wir hier in
       Scherfedin angegriffen wurden, um Hilfe gefleht. Doch am Ende kam die Hilfe
       viel zu spät, sowohl von den Peschmerga als auch von der internationalen
       Koalition.“ Einer seiner Söhne fügt hinzu: „Die kurdische
       Autonomieregierung hat mittlerweile Angst, dass wir zu stark werden und
       eine eigenständige Armee aufbauen.“
       
       In vielen arabischen Dörfern und Städten in der Region sind kurdische
       Peschmerga stationiert. Einerseits, um die Anwohner unter Beobachtung zu
       halten, andererseits, um Übergriffe durch Kurden und Jesiden zu verhindern.
       Viele Araber beschweren sich, dass nur wenige von ihnen wieder in ihre
       Dörfer zurückgelassen werden – und dass viele ihrer Häuser unter
       ungeklärten Umständen zerstört wurden.
       
       Gut eine Stunde Autofahrt von Scherfedin entfernt liegt die umkämpfte Stadt
       Sindschar, wo das Drama der Jesiden im vergangenen Jahr begann. Nach
       monatelangen Kämpfen kontrolliert der IS noch immer weite Teile der Stadt
       und der umliegenden Dörfer. Einer der wenigen Lichtblicke in diesem Kampf
       von Haus zu Haus ist, dass alle kurdischen Gruppen, sei es die PKK, der
       syrisch-kurdische Ableger YPG oder die irakischen Peschmerga, vor Ort
       gemeinsam kämpfen.
       
       ## Das Sterben geht weiter
       
       Wie lange dieser Burgfrieden aber anhalten wird, ist unklar, insbesondere,
       da viele Kämpfer sich beschweren, dass die Kurdische Autonomieregierung
       Sindschar keine Priorität einräumt. Der Kommandeur der zwölften
       Peschmerga-Armee widerspricht: „Wir halten zurzeit unsere Positionen und
       fügen dem IS in einem Abnutzungskrieg hohe Verluste zu. Wie bei der
       Befreiung der Gebiete nördlich von Sindschar im Dezember wird der Moment
       kommen, in dem wir mit einer großen Offensive in wenigen Tagen den IS
       vertreiben werden. Doch eine derartige Offensive muss unter größtmöglicher
       Geheimhaltung gut vorbereitet werden.“ Bis dahin aber steigen auch die
       Gefallenenzahlen der Peschmerga täglich.
       
       Während Kämpfer wie Schamo weiter auf eine internationale Untersuchung
       hoffen und gleichzeitig die eigenen Frontlinien zum IS bewachen, steigt der
       Unmut auf allen Seiten. Selbst in den befriedeten Gebieten geht das Sterben
       weiter. Jesidische Frauen bringen fast täglich tote Neugeborene, die an
       leicht zu heilenden Krankheiten litten, nach Scherfedin, damit sie vor der
       Beerdigung gesegnet werden. Ein Ende des Leidens der Jesiden scheint nicht
       in Sicht.
       
       29 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benjamin Hiller
       
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