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       # taz.de -- Musik-Kuratoren über die Festivalsaison: „Wir sind ja keine Muschis“
       
       > Die Kuratoren Katja Lucker und Christian Morin über Spirit und Inflation
       > von Musikfestivals in Berlin und die Arbeit mit Popmusik am Theater.
       
   IMG Bild: Die drei Kuratoren vom Festival „Pop-Kultur“: Katja Lucker, Christian Morin und Martin Hossbach
       
       taz: Frau Lucker, Herr Morin, am Freitag beginnt die Festivalsaison. Berlin
       hat einen prallen Festivalkalender. Wie positioniert sich das Musicboard
       mit Pop-Kultur? 
       
       Christian Morin: Unsere Veranstaltung ist vergleichsweise klein, wir
       bespielen ein Gebäude mit verschiedenen Venues. Da kommen dann höchstens
       12.000 Zuschauer. Diese großen Open-Air-Festivals in Berlin finde ich
       dagegen schwierig. Die jungen Leute fahren für sowas lieber in den Wald.
       
       Hat es das Berlin-Festival schwer? 
       
       Katja Lucker: Gute Frage. Ich weiß überhaupt nicht, wie sich das verkauft.
       Das Berlin-Festival ist ja nicht ohne Grund weggegangen vom Tempelhofer
       Feld hin zur Arena Treptow.
       
       Im Programm wird behauptet, es würde „Berlin als Mikrokosmos“ abbilden. 
       
       Lucker: Wir fördern einen Teil beim Berlin-Festival mit lokalen Labels und
       Künstlern. Vergangenes Jahr war es gut besucht, auch durch die
       Verkleinerung, das denke ich, wird dieses Jahr wieder klappen. Beim
       Lollapalooza Festival, das erstmals in der Stadt im September stattfindet,
       kann ich überhaupt nicht einschätzen, ob Fans für viel Geld ein Ticket
       kaufen.
       
       Lollapalooza ist eine Marke, so wie Coca-Cola. Ist es richtig für Berlin,
       Künstler zu präsentieren, die überall sonst auch spielen? 
       
       Lucker: Berlin ist sehr wählerisch. Deswegen muss man sich angucken, wofür
       diese großen Festivals stehen. Mein Herz schlägt eher für die Kleinen, wir
       fördern etwa das Down by the River-Festival im About blank. Das sind kleine
       Perlen, die der Stadt gut stehen.
       
       Morin: Man darf Musikliebhaber und gerade auch die jungen nicht
       unterschätzen, die merken, ob etwas mit Liebe zusammengestellt ist. Wir
       haben schon Festivals scheitern sehen, wo jemand gedacht hat, er bucht ein
       paar große Namen zusammen - da fehlte der Spirit.
       
       Ihr Festival Pop-Kultur wird als Neuerfindung der Berlin Music Week
       lanciert. Warum? 
       
       Lucker: Als es diesen Parlamentsbeschluss gab, dass das ganze ans
       Musicboard gehen soll, weil wir näher am Thema Popkultur sind, als die
       Kulturprojekte GmbH, die es ja früher gemacht hat, haben wir gesagt, okay,
       dann machen wir etwas, wie sich 2015 in Berlin Popkultur darstellt.
       
       Morin: Ich habe mir überlegt, was macht uns in Berlin aus, was können wir
       hier dazugeben, was ist der Vibe der Stadt.
       
       Wie unterscheiden sich Ihre Workshops von herkömmlichen Panels? 
       
       Morin: Es geht eher um Wissensvermittlung. Unser Gedanke war, welche
       Künstler haben Interesse, jüngeren Leuten etwas beizubringen. Der Brite
       Matthew Herbert wird einen Workshop geben, Sookee, die Berliner Rapperin
       wird einen Workshop machen. Talks gibt es auch, da geht‘s eher um
       Geschichten aus der Musik. Bernard Sumner liest in der Garderobe vom
       Berghain aus seiner Autobiografie und erzählt, wie es war mit Joy Division
       und dem Club Hacienda in Manchester.
       
       Und da geht es um kontroverse Themen? 
       
       Lucker: Könnte sein. Es ist ein anderer Ansatz, als dass jetzt wieder
       Verbandsleute darüber reden, wie das mit Streaming ist.
       
       Morin: Ich habe Abende erlebt in Kreuzberger Bars, an denen Agenten und
       Musiker zusammen getrunken haben und Dinge verhandelt haben, wo am Ende des
       Tages mehr Geschäfte gemacht wurden, als an offiziellen
       Musikwirtschafts-Anlässen. Verbandstreffen mögen eine Berechtigung haben,
       aber drunter gibt‘s eine Ebene, die brodelt genau hier in der Stadt.
       
       Sie rücken also näher an die Szene? 
       
       Lucker: Uns geht es nicht darum, dass Verbände und große
       Technologie-Unternehmen sich präsentieren. Es geht um diejenigen, die was
       zu sagen haben, und vielleicht auch zu vermitteln haben, also am Ende auch
       um Persönlichkeiten. Da steht die Krise eben nicht im Vordergrund.
       
       Warum soll Pop-Kultur stärker diskurslastig werden? 
       
       Morin: Ich buche nicht hier ein Konzert und da noch eins, sondern ich rede
       mit den Leuten. Aus diesem Prozess des Miteinanderredens entsteht der
       Geist, den das Festival auch transportiert.
       
       Wer kommt überhaupt ins Berghain und darf sich das ansehen? 
       
       Lucker: Das Festival ist frei zugänglich mit Tickets, Backstage ist der
       einzige Bereich mit Beschränkung, da können sich Leute treffen, Business
       machen, sich austauschen.
       
       In einem Interview mit dem ZDF haben Sie gesagt, Berlin sei attraktiv für
       Künstler, weil die Mieten niedrig sind. Wagen Sie eine Zukunftsprognose? 
       
       Lucker: Das ist wirklich eine Erfahrung, die wir machen, mit all den
       Künstlern, die zu uns kommen. Die sagen, Berlin ist unvergleichlich
       günstig. Die Künstler sagen uns auch, sie finden immer noch Räume. Das ist
       eines unserer großen Themen, dafür setzen wir uns ein. Was jetzt
       Arbeitsbedingungen für Künstler anbelangt, gucken wir auch, dass Dinge
       erhalten bleiben. Was die Mieten anbelangt, natürlich würde das die Dinge
       komplett ändern, wenn Berlin jetzt auf einmal wie München werden würde.
       
       Morin: Ich kann mich da mal an die eigene Nase fassen, was wir Anfang der
       90er in Mitte gemacht haben, die ersten Clubs, den Eimer, das hat zur
       Attraktivität von Mitte beigetragen und hat Leute angezogen, die wiederum
       was anderes daraus gemacht haben und so weiter. Das lässt sich nie
       verhindern. Berlin ist glücklicherweise groß genug, dass es noch
       Ausweichmöglichkeiten gibt.
       
       Zuletzt gab es ja einen größeren Kulturkampf in der Stadt. Hat die Causa
       Volksbühne dazu geführt, dass Sie sich selbst hinterfragen? 
       
       Lucker: Unbenommen, ob Chris Dercon und sein Team das beste der Welt ist,
       wie viele Journalisten sich darauf eingeschossen haben, fand ich
       erschreckend. Haben wir selbst Angst? Natürlich nicht, wir sind ja keine
       Muschis. Das heißt jetzt nicht, dass das Musicboard nur Freunde hat. Man
       kann nicht Neues wollen und meinen, dass einen die ganze Welt umarmt.
       
       Herr Morin, haben Sie Angst um Ihren Job als Musikkurator an der
       Volksbühne? 
       
       Morin: Ja, es ist ja schon so, kommt am Theater ein neuer Intendant, bringt
       er eigene Leute mit. Mich hat das Arbeiten am Theater verändert, weil es
       meinen Blick auf Musik vergrößert hat. Ich sehe das jetzt viel inhaltlicher
       und dramaturgischer. Ich glaube, dass dieser Blick auch auf unser Festival
       abgefärbt hat. Der reine Musikblickwinkel ist doch sehr eingeschränkt. Wenn
       wirklich Mittel da wären, um Produktionen zu machen, würde sehr viel Tolles
       entstehen.
       
       29 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
   DIR Jens Uthoff
       
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