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       # taz.de -- Ägyptens Präsident Al-Sisi besucht Berlin: Wo Tote zum Tode verurteilt werden
       
       > Fragwürdige Verfahren, Folter, erpresste Geständnisse,
       > Massenhinrichtungen: Die ägyptische Justiz ist in einem desolaten
       > Zustand.
       
   IMG Bild: Trauer um den Sohn und Bruder: Die Familie des hingerichteten Abdel Rahman mit seinem Bild.
       
       „Abdel Rahman ruht im Paradies“, hat jemand an die Eingangstür in Ain
       Schams, einem Armenviertel im Norden Kairos gesprüht. Drinnen wartet eine
       sichtbar erzkonservative muslimische Familie – ein Mann mit Salafisten-Bart
       und alle Frauen in Schwarz, die Gesichter von einem Niqab bedeckt, der nur
       die Augen freilässt. Auf dem Tisch liegen mehrere Blumensträuße. Eine Torte
       wartet darauf angeschnitten zu werden.
       
       Hier wird getrauert und gefeiert. Eine Familie, die emotional
       zusammengebrochen ist, sucht Trost, indem sie nach außen hin ihren Sohn und
       Bruder als Märtyrer zelebriert. Tränen der Verzweiflung wechseln sich ab
       mit Jubeltrillern.
       
       Eine Woche zuvor hat die Familie den 19jährigen Abdel Rahman Risk aus der
       Leichenhalle in Kairo abgeholt. Ein ägyptisches Militärgericht hatte ihn
       zum Tode verurteilt, mit fünf anderen jungen Männern ist er hingerichtet
       worden. Alle sechs waren angeklagt, an einem Schusswechsel mit dem Militär
       und mit Sicherheitskräften am 19. März 2014 im Ort Arab Scharkas im
       Nildelta beteiligt gewesen sein. Zwei Militäroffiziere kamen damals um.
       
       So weit, so normal in Ägypten. Zwei Militäroffiziere starben, weswegen der
       Fall nicht vor einem zivilen, sondern einem Armeegericht verhandelt wurde.
       Auch die Todesstrafe ist in einem solchen Fall im Land am Nil nichts
       Ungewöhnliches. Aber waren die Hingerichteten wirklich für das Verbrechen
       verantwortlich sind, das ihnen zur Last gelegt wurde?
       
       ## Drei Tage zuvor festgenommen
       
       Sowohl die Mutter Umm Abdel Rahman als auch der Vater Sayyed und die
       Schwester Sarah erklären: Ihr Sohn und Bruder sei schon vor der Schießerei
       in Arab Scharkas verhaftet worden. Von der Mutter existiert sogar ein
       Video, aufgenommen an dem Tag, als sie ihren Sohn in der Leichenhalle
       abholte: „Mein Sohn Abdel wurde am 16. März verhaftet und die Schießerei
       fand am 19. März statt. Wir haben versucht das Gericht zu überzeugen aber
       vergebens“, schreit sie fassungslos in die Kamera. Davon, dass ihr Sohn
       hingerichtet worden ist, hatte die Familie aus dem Fernseher erfahren.
       
       Die Schwester Sarah erzählt, Abdel Rahman sei drei Tage vor der Schießerei
       in Arab Scharkas festgenommen worden: in einem Reisebüro im Westen Kairos.
       Der 19-jährige wollte gerade sein Ticket für eine Fahrt in die Türkei
       abholen. Die Reiseagentur hatte die Anweisung, jeden jungen Ägypter, der in
       die Türkei – und damit möglicherweise Richtung Syrien – reist, zu melden.
       Bizarrerweise hätte das Büro Abdel Rahman gerade deswegen entlasten können.
       
       „Wir haben die Mitarbeiterin des Reisebüros, in dem Abderrahman
       festgenommen wurde, gebeten, vor Gericht auszusagen“, erzählt seine
       Schwester Sarah. Aber die Angestellte lehnte ab. Grund: „Die
       Staatssicherheit hatte ihr gedroht, sie in diesem Falle vom Erdboden
       verschwinden zu lassen“.
       
       ## Geständnisse unter schwerer Folter erpresst
       
       Nun war Abdel Rahman mit seinen 19 Jahren kein unbeschriebenes Blatt.
       Bereits zweimal zuvor war er über die Türkei an die syrische Grenze
       gefahren – um Flüchtlingen zu helfen, behauptet die Familie. Aber es
       existiert auch ein Video, das im ägyptischen Fernsehen gezeigt wurde. Darin
       ist Abdel Rahman zu sehen, wie er mit seinen Mitkämpfern – mutmaßlich in
       Syrien – den Dschihad besingt. Sein Vater ist den Sicherheitsbehörden
       ebenfalls bekannt: Er hat zur Zeit des autokratisch herrschenden
       Präsidenten Mubarak drei Jahre lang im Gefängnis gesessen, wegen
       angeblicher Mitgliedschaft in der militanten Gruppe Gamaa Islamiya. Der
       Vater streitet bis heute ab, jemals in irgendeiner Gruppierung Mitglied
       gewesen zu sein.
       
       Doch der Fall der Schießerei in Arab-Scharkas wirft viele Fragen auf. Auch
       im Ausland haben Beobachter wie die Gruppe Human Rights Watch Zweifel
       angemeldet und gefordert, die Todesurteile nicht zu vollstrecken.
       „Menschenrechtsorganisationen haben nach Gesprächen mit den Familien und
       den Anwälten genug glaubwürdige Informationen, dass mindestens drei der
       Exekutierten zum Teil Wochen und Monate zuvor im Gefängnis saßen, bevor das
       Verbrechen für das man sie exekutiert hatte, begangen wurde“, erklärt auch
       der ägyptische Menschenrechtsaktivist Khaled Mansour im Gespräch mit der
       taz.
       
       Warum hat das Gericht nicht die Einwände untersucht, dass die Angeklagten
       an dem Tag gar nicht am Tatort gewesen waren? Warum wurden die Zeugen der
       Verteidigung nicht befragt? Warum hat man die Vorwürfe nicht untersucht,
       dass die Geständnisse unter schwerer Folter zustanden gekommen sind, fragt
       er. Das Urteil sei nach nur zehn Sitzungen gefällt worden. Die Verteidigung
       erklärte, ihre Eingaben seien meist zurückgewiesen worden. Khaled Mansour:
       „Damit gibt mehr als genug Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit dieses
       Verfahrens.“
       
       ## Widersprüchliche Polizeiberichte
       
       Es ist aber nicht nur die ägyptische Militärjustiz, die fragwürdige Urteile
       fällt. Auch die zivilen Gerichte tun es: Das prominenteste Verfahren ist
       jenes gegenden ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten und Muslimbruder
       Muhammad Mursi. Der erhielt im Mai zusammen mit über Hundert anderen die
       Todesstrafe. „In diesem Fall gab es unter den zu Tode Verurteilten zwei
       Männer, die bereits verstorben waren – und einen, der seit Jahren in einem
       israelischen Gefängnis sitzt“, beschreibt Mansour die Gründe für seine
       Skepsis an dem Verfahren, in dem es um die Flucht aus dem Gefängnis während
       der chaotischen Tage der Revolution geht. Wie in so vielen Prozessen, gibt
       es im Beweisverfahren Widersprüche in den Polizeiberichten, kaum
       unabhängige Zeugen.
       
       Amnesty International bezeichnet den Prozess als „extrem unfair.“ Er habe
       „unter vollkommener Ausblendung der Menschenrechte“ stattgefunden. Mursis
       Verfahren sei bereits ausgehebelt worden, bevor er das erste Mal den
       Gerichtssaal betreten habe, heißt es bei Amnesty weiter: „Die Tatsache,
       dass Mursi monatelang isoliert und ohne Aufsicht der Justiz und während der
       Untersuchung ohne Vertretung eines Anwalt gefangen gehalten wurde, macht
       den Prozess zu einer Scharade ohne jegliche Rechtsstaatlichkeit“.
       
       „In den letzten zwei Jahren, seit die Muslimbrüder von der Macht entfernt
       wurden, sind Hunderte und Aberhunderte zu Tode verurteilt worden“, blickt
       der Menschenrechtler Mansour zurück. „Auch wenn viele dieser Urteile in den
       Berufungsverfahren verworfen werden, wirft das einen langen Schatten auf
       Ägyptens Justizsystem“, meint er. Dabei gehe es nicht nur um die Justiz,
       sondern um die Grundlagen des ägyptischen Staatswesens:“Wenn die Menschen
       das Vertrauen in die Justiz verloren haben, wird hier das Tor zur Hölle
       geöffnet, in der alle Seiten Gewalt anwenden, ohne angemessen zur
       Rechenschaft gezogen zu werden“, fürchtet er.
       
       ## Zweierlei Maß
       
       Tatsächlich gehört zum Bild der ägyptischen Justiz, dass sie in zweierlei
       Maß sie misst. „Wenn Polzisten foltern oder der Gefangene umkommen, wird
       das kaum ernsthaft vor Gericht verhandelt“, schildert Mansour die eine
       Seite. „Während gleichzeitig hunderte für den Tod einiger weniger
       Polizisten zu Tode verurteilt werden“, die andere.
       
       Emad El-Din Shahin ist ein weltweit anerkannte Politikwissenschaftler, der
       früher an der Amerikanischen Universität in Kairo gelehrt hat und
       Herausgeber der Oxford Encyclopedia of Islam and Politics ist. Er ist in
       Abwesenheit als Angeklagter Nummer 33 im gleichen Fall mit Mursi zum Tode
       verurteilt worden. „Das Gericht hat mein Verbrechen, das ich begangen haben
       soll nie genau definiert. Die Anklagepunkte waren sehr vage von Spionage
       bis zur Gefährdung der nationalen Sicherheit“, schreibt er über seinen Fall
       im US-Magazin The Atlantic.
       
       Der ägyptische Richter hat die Akte der Todesurteile gegen Mursi, Shahin
       und 104 anderer dem Mufti übergeben, damit dieser seine nicht bindende
       Meinung dazu abgeben kann. Am 2. Juni wird das Gericht dann ein endgültiges
       Urteil fällen.
       
       Aber selbst wenn dieses nicht mit einem Todesspruch, sondern möglicherweise
       lebenslänglich oder mit langjährigen Gefängnisstrafen endet, bleibt das
       Verfahren fragwürdig.
       
       ## Innere Angelegenheiten
       
       Einen Tag nach dem Urteilspruch wird der ägyptische Präsident am Mittwoch
       zu einem Staatsbesuch nach Berlin kommen. Dabei wird sicherlich auch das
       Vorgehen der ägyptischen Justiz zum Thema werden, zumal der Präsident des
       Bundestages Norbert Lammert die Gerichtsprozesse als einen der Gründe
       angegeben hat, warum er sich nicht mit El-Sisi treffen will.
       
       Der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry hat bei einem Treffen mit
       deutschsprachigen Journalisten im Vorfeld des Besuches bereits die Linie
       vorgegeben: Man verwehre sich gegen eine Einmischung in die inneren
       Angelegenheiten, ließ er verlauten. Außerdem respektiere man die
       Entscheidungen der unabhängigen Justiz.
       
       ## Die Justiz schafft Märtyrer – und neue Dschihadisten
       
       Im Armenviertel Ain Schams holt die Mutter Abdel Rahmans die rote
       Gefängnis-Uniform ihres Sohnes hervor, die Farbe für die zu Tode
       Verurteilten. Daneben zieht sie sein blutiges Unterhemd hervor. Ihr Sohn
       sei schwer gefoltert worden, erklärt sie das blutdurchtränkte Hemd. Dann
       drückt sie das Hemd an ihr Gesicht und amtet tief ein. „Es riecht nicht
       nach Blut, sondern nach Rosen. Gott mache mich stark“, sagt sie.
       
       Die Tränen stehen ihr in den Augen.Dann holt die Familie noch ein Poster
       Abdel Rahmans hervor. Es zeigt einen Jugendlichen, der in die Kamera
       lächelt.
       
       Der Vater blickt starr in den Raum. Die beiden Frauen stimmen mit
       gebrochenen Stimme, die nur leise unter ihrem Schleier hervordringt, ein
       islamisches Märtyrerlied an. Es scheint, Ägyptens Justizsystem schafft
       rascher Dschihadisten, als es in zweifelhaften Schnellverfahren verurteilen
       kann.
       
       1 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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