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       # taz.de -- Künstlerische Spurensuche zum NSU: Die Dämonen von Winzerla
       
       > Der Jenaer Künstler Sebastian Jung zeigt im Bildband „Winzerla“ die
       > Heimat des NSU. Sie liegt zwischen Normalität und Schrecken.
       
   IMG Bild: Schrecklich normal: Hier lebte Uwe Mundlos.
       
       In Winzerla, einem Vorort von Jena, sollen die späteren NSU-Mitglieder
       Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt in den Neunziger Jahren mit selbst
       geschneiderten SS-Uniformen durch die Straßen gelaufen sein, nachdem sie
       den Ort zur „national befreiten Zone“ erklärt hatten.
       
       Daran fühlt man sich als BetrachterIn erinnert, wenn man Sebastian Jung in
       purpurfarbener Bomberjacke und schwarzem Polohemd vor einer
       Plattenbausiedlung stehen sieht. Diese befindet sich in Winzerla, einem
       Jenaer Ortsteil, in dem sowohl der Künstler als auch die späteren
       mutmaßlichen NSU-MörderInnen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt aufgewachsen
       sind. In seinem Bildband „Winzerla“ begibt sich Jung auf eine künstlerische
       Spurensuche im Schatten des NSU.
       
       Ausgangspunkt der Spurensuche ist ein diffuses Unbehagen. „Ein Gefühl von
       ‚da stimmt was nicht‘ hat mich seit meiner Kindheit begleitet“, erzählt
       Jung. Etwa als ein Nachbar kurzerhand den Flieder vor dem Balkon seiner
       Familie absägte – mit der Begründung: „Wenn ich auf dem Balkon mein
       Honigbrötchen esse, will ich nicht von irgendwelchen Bienen gestört
       werden“.
       
       Diese und andere Anekdoten aus seiner Kindheit kombiniert Jung im ersten
       Kapitel des Buchs mit Fotos und Zeichnungen aus Winzerla. Im zweiten
       Kapitel stellt er dem eine Kioskszene gegenüber, im dritten Kapitel
       Abstraktionen der Architektur von Plattenbauten in Winzerla. Im vierten
       Kapitel sind Szenen zu sehen, die er im Gerichtssaal der NSU-Prozesse
       gezeichnet hat. Das Buch oszilliert durchgehend zwischen den Polen
       „Normalität“ und „Schrecken“.
       
       Sebastian Jung will mit seiner Arbeit keine Erklärungen für den NSU-Terror
       liefern, sondern individuelle Bewusstseinsprozesse anregen. Er nähert sich
       dem Thema mittels seiner eigenen Beobachtungen und setzt darauf, dass diese
       auf Resonanz stoßen: „Das Thema ‚Schrecken‘ wird im Kunstprojekt kurz
       angespielt – jedeR kann seine eigenen Anknüpfungspunkte finden.“
       
       ## Winzerla könnte überall sein
       
       Die Dämonen von Winzerla begreift der 1987 geborene Künstler als
       „unaufgearbeitete psychologische Kisten“, die sich sowohl in seiner Kunst
       als auch in der deutschen Lebenswirklichkeit widerspiegeln. „Winzerla“
       konfrontiert die bürgerliche Mitte mit Abgründen wie dem NSU, der
       Nazi-Vergangenheit ihres eigenen familiären Umfelds, aber auch mit ihrer
       Angst, ihren Ressentiments und ihrem Chauvinismus. Phänomene, für die viele
       auf individueller Ebene noch keine bessere Strategie gefunden haben, als
       sie zu verdrängen. „Die Realität des NSU und auch der deutschen
       NS-Vergangenheit ist so hart, dass sich neben einer gesellschaftlichen
       Aufarbeitung die Frage stellt: Wie geht man eigentlich als Individuum damit
       um?“
       
       Die Fotografien, Zeichnungen und Anekdoten wirken merkwürdig vertraut. Eine
       geografische Verortung des Abgrunds ist nicht möglich. Das „Winzerla“, das
       auf den Fotografien zu sehen ist, könnte beinahe überall liegen. Für das
       Entstehen des Grauens greifen keine einfachen Erklärungen. Die
       Plattenbauten bieten zwar eine Projektionsfläche für das Motiv des
       Schreckens, allerdings steht dahinter laut Jung keine Kritik an
       architektonischer Entfremdung.
       
       Sebastian Jung ist in mehrerer Hinsicht ein Grenzgänger. Er versucht mit
       seiner Kunst in Bereiche vorzudringen, vor denen andere zurückschrecken: So
       dokumentiert er als Künstler so skurrile Phänomene wie ein
       Jürgen-Drews-Konzert im Einkaufszentrum, die Erotik-Messe „Venus“ in Berlin
       oder das Münchner Oktoberfest. „Winzerla“ versteht er auch als
       Selbstversuch: „Ich stelle mir die Frage: Was wäre passiert, wenn mein
       Leben einen kleinen Tick anders gelaufen wäre? Hätte ich auch in diese
       Geschichte hineinrutschen können?“
       
       4 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Maier
       
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