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       # taz.de -- Berliner Szenen: Phallus Gorbatschow
       
       > Die U7 fährt einmal quer durch die Stadt. Lang genug für eine
       > Klassenfahrt oder ein bisschen Beziehungstheater.
       
   IMG Bild: Spandau bei Berlin, Ort der Sehnsucht.
       
       Ich fahre nach Spandau und lese die taz. Ich mag die Strecke, eine
       Dreiviertelstunde U7. Das ist so schön, so rein und unschuldig und ohne
       Umsteigen. Als ich in der Grundschule war, sind wir so auf Klassenfahrt
       gefahren, von Gropiusstadt nach Spandau.
       
       Irgendwo war da noch ein Bus im Spiel, aber im Großen und Ganzen bestand
       die Fahrt daraus, eine Stunde mit der U7 quer durch die Stadt zu fahren,
       von unten rechts nach oben links, und am Ende waren wir in Kladow - unten
       links - und spielten bei einem „bunten Abend“ die Kelly Family nach, also
       so playbackmäßig, und ich war die Loserin, weil ich keine Hippieklamotten
       mithatte und mir eine blöde bunte Weste ausleihen musste, und ich glaube
       auch, dass ich mir auf dieser Fahrt die Nase gebrochen hab. Na ja.
       
       Zwei Leute steigen am Kleistpark ein, der Mann setzt sich in meinen Vierer,
       maximal breitbeinig. Er würde einen Spagat im Sitzen machen, wenn er
       könnte. Die Frau fragt: „Darf ich auf deinen Schoß?“, er: „Nein, Mann“,
       dann setzt sie sich in den Vierer gegenüber und spielt auf ihrem Telefon
       und er zieht eine Flasche Wodka aus seiner Lederjacke und stellt sie sich
       zwischen die Beine. Phallus Gorbatschow.
       
       „Bist du die Mutter meiner Kinder?“, fragt er die Frau, sie guckt kurz
       hoch, „Oder bist du nicht?“, sie spielt weiter. Dann murmelt er auf
       Arabisch, Kopf runter zum Wodka. Ich blättere in der Zeitung, er guckt
       hoch. „Hunderte Tote in Ramadi“, steht auf der ersten Seite.
       
       „Hunderte Tote wo?“, fragt er. „Hun-der-te To-te in Ra-mad“, liest er. „Wo
       ist das? Weiß ich nicht.“ Er liest noch mal. „Ach so, Ramadi, mit i“, sagt
       er, „weiß ich auch nicht, wo das ist.“ „Wir müssen raus“, sagt die Frau und
       versucht sich bei dem Mann unterzuhaken. Klappt nicht. „Ich weiß nicht, wer
       die Mutter meiner Kinder ist“, sagt der Mann beim Rausgehen, „ich weiß
       einfach nicht. Muss ich alles wissen? Muss ich nicht.“
       
       3 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Margarete Stokowski
       
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