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       # taz.de -- Parteitag der Linken: Der Abschied des Orakels
       
       > Gregor Gysi macht Ernst: Er gibt den Vorsitz der Bundestagsfraktion ab –
       > und hinterlässt seinen Nachfolgern einen Regierungsauftrag.
       
   IMG Bild: Am Schluss musste Gysi dann doch noch weinen
       
       Bielefeld taz | Um 13.27 Uhr beginnt das Orakel zu sprechen. Das ganze
       Wochenende und noch viel länger hat die Partei gerätselt: Bleibt Gregor
       Gysi vielleicht doch? Kandidiert der linke Übervater bei der für Herbst
       geplanten Vorstandswahl noch einmal? Kann der Vorsitzende der
       Bundestagsfraktion nach einem fast ununterbrochenen Vierteljahrhundert
       überhaupt abtreten?
       
       Das Orakel hatte ganze Arbeit geleistet. Ein Interview hier, eine Andeutung
       da – und nirgendwo eine klare Aussage. In der Bielefeld Stadthalle saß
       Gregor Gysi dann zwei Tage lang in der ersten Reihe, lauschte brav den
       Reden und verlor über die große Frage des Wochenendes kein Wort. In 25
       Jahren als Politiker hat er gelernt, wie man einen Spannungsbogen aufbaut.
       
       Bis Sonntag, 13.27 Uhr. „Heute spreche ich letztmalig als Vorsitzender
       unserer Bundestagsfraktion auf einem unserer Parteitage“, sagt Gysi ohne
       Vorrede. Jetzt ist es raus, und der Noch-Fraktionsvorsitzende braucht nur
       ein paar Sätze mehr, um seine weiteren Zukunftspläne zu skizzieren:
       Abgeordneter will er bleiben, 2017 vielleicht sogar erneut für den
       Bundestag kandidieren – ein Regierungsamt aber will er auf keinen Fall. Und
       die Fraktion? „Die Zeit ist gekommen, den Vorsitz in jüngere Hände zu
       legen.“
       
       Ein paar Sekunden und Gregor Gysi hat die erste große Personalfrage der
       Linksfraktion geklärt. Am Ende des Bielefelder Parteitags bleibt somit nur
       die zweite große Personalfrage offen – und die Antwort darauf ist nun
       dringlicher als zuvor: Die Linken brauchen zwei Nachfolger für ihren großen
       Fraktionsvorsitzenden, am liebsten eine Doppelspitze mit einem Vertreter
       des rechten Flügels und einen des linken. Die besten Aussichten haben zwei
       Abgeordnete, die bis vor kurzem ohnehin fest für den Posten eingeplant
       waren: die Vizefraktionschefs Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht.
       
       ## Macht es Wagenknecht doch?
       
       Letztere hat in den vergangenen drei Monaten eines der verrückteren Kapitel
       der Parteigeschichte geschrieben: Anfang März hatte die linke
       Bundestagsfraktion mehrheitlich für ein neues Griechenland-Hilfspaket
       gestimmt – gegen Wagenknechts Rat. Das kratzte am Stolz der
       Eurokrisen-Expertin. Sie entschied, dass sie diese Fraktion gar nicht
       leiten will. Auch nicht, wenn Gysi im Herbst abtritt und damit wahr macht,
       worüber schon damals spekuliert wurde.
       
       Es folgte eine dreimonatige Diskussion über die Zukunft Gysis und
       alternative Nachfolgerinnen an der Spitze der Fraktion. War die umsonst?
       Seit kurzem denkt Wagenknecht ernsthaft über eine Kehrtwende nach. Dafür
       kann es nur eine Erklärung geben: Die Fraktion hat niemand Besseren
       gefunden.
       
       ## Selbst Rechte sind für Sahra
       
       „Ich habe mit Sahra einerseits viele Differenzen. Sie ist andererseits eine
       unserer profiliertesten Politikerinnen und würde gemeinsam mit Dietmar
       Bartsch unsere Fraktion gut repräsentieren“, sagte am Sonntag sogar der
       Abgeordnete Stefan Liebich der taz. Der steht in der Linksfraktion so weit
       rechts wie niemand sonst. Wenn selbst er nach Wagenknecht ruft, hat das
       etwas zu bedeuten.
       
       Die Rechnung ist einfach: Eine prominentere Politikerin und bessere
       Rednerin hat die Linkspartei nicht. Um bei der Bundestagswahl 2017 wieder
       ein gutes Ergebnis zu erzielen, muss Wagenknecht im Wahlkampf vorne stehen.
       Es geht um die Mandate aller linken Abgeordneten – auch um die der
       Reformer.
       
       ## Unglaubwürdig? Keineswegs!
       
       Bleibt die Frage, ob sich Wagenknecht mit ihrer plötzlichen
       Meinungsänderung unglaubwürdig macht. Keineswegs, meint ihr Umfeld. Ihren
       Brief aus dem März habe sie schließlich ganz anders gemeint: Damals sei sie
       davon ausgegangen, dass Gysi im Herbst noch einmal kandidiere. Und gegen
       ihn hätte sie sowieso keine Chance gehabt.
       
       Wagenknecht selbst äußert sich zu alldem nicht. Eine Art Bewerbungsrede
       hält sie auf dem Parteitag trotzdem: Am Samstag gibt sie vor den
       Delegierten volle Breitseite gegen eine mögliche Koalition mit SPD und
       Grünen auf Bundesebene. Rot-Rot-Grün mit SPD-Chef Gabriel und dessen
       TTIP-Sozen? „Die Linke ist ganz sicher nicht gegründet worden, um in dieser
       trüben Brühe mitzuschwimmen“, sagt Wagenknecht. Bei dem Teil der Basis, der
       sämtliche Kompromisse verteufelt, kommt das gut an. Und dieser Teil ist
       nicht klein.
       
       ## Gysis Botschaft an die Partei
       
       Andere Spitzen-Linke äußern sich auf dem Parteitag ebenfalls kritisch zum
       Regieren, auch die beiden Parteichefs Kipping und Riexinger. Am Ende dieses
       Wochenendes kommt aus Bielefeld trotzdem kein Nein zu Rot-Rot-Grün –
       sondern die Botschaft, die Gysi seinen Leuten zum Abschied mitgibt.
       
       Die Linkspartei müsse eben doch regieren wollen, sagt er, nachdem er seinen
       Abgang verkündet hat. Die Hürden dafür dürfe die Basis nicht zu hoch legen.
       „Die Schritte einer Regierung links der Mitte können unserer Auffassung
       nach zu kurz sein. Sie müssen aber in die richtige Richtung gehen“, sagt
       er. Die TTIP-Verhandlungen aussetzen, Waffenexporte an Diktaturen
       verbieten, Kampfeinsätze der Bundeswehr verhindern – all das sei
       Kompromisse wert.
       
       Es folgen: ein paar persönliche Worte, eine Entschuldigung bei seiner
       Exfrau, ein Dank an seine Freunde. Dann kämpft Gregor Gysi mit den Tränen,
       und die Delegierten können gar nicht anders: Sie stehen auf und
       applaudieren ihrem Fraktionschef und seinem Vierteljahrhundert in der
       Politik.
       
       7 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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