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       # taz.de -- Sikhs und Hindus in Afghanistan: Verfolgt und diskriminiert
       
       > Einst waren sie fester Bestandteil der afghanischen Gesellschaft. Doch
       > langjährige Schikanen zeigen Wirkung.
       
   IMG Bild: Afghanische Sikhs beim Gebet.
       
       Kabul ap | Einst lebten rund 100.000 Sikhs in Afghanistan. Heute sind es
       nur noch etwa 2.500. Der Grund für diesen Massenexodus sind die weit
       verbreitete soziale und religiöse Diskriminierung in dem muslimischen Land,
       die extrem eingeschränkte Teilhabe an Politik und Geschäftsleben sowie
       zahlreiche unrechtmäßige Enteignungen, gegen die der Staat bislang nicht
       vorgegangen ist.
       
       „Meine Sorge ist, dass wir nicht hierbleiben können, wenn sich die Dinge
       nicht ändern. Die einzigen, die dann bleiben werden, sind diejenigen, die
       kein Geld haben“, sagt der 23-jährige Apotheker Charn Singh aus Gardes, der
       Hauptstadt der Provinz Paktja an der Grenze zu Pakistan.
       
       Die Wurzeln seiner Familie dort reichen rund 400 Jahre zurück, seine
       Vorfahren waren wohlhabende Händler und Landbesitzer, sein Großvater hoch
       angesehen als Bewahrer und Überlieferer von Legenden der Sikhs. Heute ist
       wenig geblieben vom früheren Wohlstand. Die Familie hat den größten Teil
       ihres Landes verloren. Es wurde illegal enteignet.
       
       Den Hindus geht es in Afghanistan ganz ähnlich, wie die Abgeordnete
       Anarkali Kaur Honarjar berichtet. Obwohl Sikhismus und Hinduismus
       eigenständige Religionen sind, sehen viele Afghanen deren Mitglieder nur
       als nicht-muslimische Ausländer. “In allen Provinzen haben Sikhs und Hindus
       Ländereien besessen. Doch leider wurde ihnen das von mächtigen Individuen
       während der Kämpfe genommen“, sagt Honarjar, die auch
       Menschenrechtsaktivistin ist.
       
       ## Wachsende Intoleranz
       
       Die Verfolgung von Sikhs und Hindus ist eine Konstante in der jüngeren
       afghanischen Geschichte. Nachdem die Russen im Februar 1989 die Besatzung
       beendet hatten, stürzte Afghanistan in den Bürgerkrieg. Verschiedene
       Splittergruppen kämpften um Land und Macht. In diesem Chaos wurden viele
       Gotteshäuser der Sikhs und Tempel der Hindus zerstört. Zugleich wuchs die
       Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten.
       
       Als die radikalislamischen Taliban 1996 an die Macht kamen, wurde das sogar
       offizielle Leitlinie der Politik. Sikhs und Hindus wurden gezwungen, zum
       Islam zu konvertieren. Sie mussten Extra-Steuern bezahlen und gelbe
       Aufnäher auf ihrer Kleidung tragen, damit man sie als Nicht-Muslime
       erkennen konnte. Muslime wurden dazu aufgerufen, keine Geschäfte mit ihnen
       zu tätigen.
       
       In dieser Zeit wurden viele Sikhs und Hindus gezwungen, ihr Land zu
       verkaufen. Oder sie wurden einfach enteignet. Diejenigen, die
       zwischenzeitlich aus Afghanistan fliehen mussten, stellten bei ihrer
       Rückkehr fest, dass die Enteignung mit gefälschten Papieren legitimiert
       worden war.
       
       ## Restitution ist mühsam und teuer
       
       Auch nach dem Sturz der Taliban verbesserte sich die Situation nicht
       wirklich. Unter Präsident Hamid Karsai wurden die illegalen Enteignungen
       zwar weitgehend gestoppt. Aber die Bemühungen der rechtmäßigen Besitzer,
       ihr Land wieder zurückzubekommen, erwiesen sich in dem im Aufbau
       befindlichen Rechtssystem als schwierig. Viele verzichteten deswegen auf
       die mühsamen, teuren und häufig vergeblichen Versuche, ihr Eigentum
       zurückzubekommen.
       
       „Das ist ein großes problematisches Thema für viele Afghanen, darunter auch
       viele afghanische Sikhs“, sagt Abdul Kadir Arsu, Sprecher der Kabuler
       Stadtverwaltung. “Die Sikhs waren dem Krieg und den Konflikten wehrlos
       ausgesetzt, so wie viele Afghanen.“
       
       Sikhs und Hindus werden in Afghanistan oft als Inder oder Pakistaner
       angesehen, auch wenn sie afghanische Staatsbürger sind. Im Jahr 2013
       scheiterte Karsai mit einem Vorstoß, Sikhs und Hindus Plätze im Parlament
       zu gewähren. Die Begründung der Abgeordneten für die Ablehnung damals: Auch
       andere Minderheiten könnten dann solche Privilegien einfordern.
       
       Die Kommission für internationale Religionsfreiheit mit Sitz in den USA kam
       bereits in einem Bericht aus dem Jahr 2009 zu dem Schluss, dass es zwar
       keine offizielle Diskriminierung mehr gegen Hindus und Sikhs in Afghanistan
       gebe, diese Menschen jedoch faktisch von der Politik ausgeschlossen seien
       und gesellschaftlich angefeindet würden.
       
       ## Steine auf Trauerzüge
       
       Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Übergriffen, besonders bei
       Beisetzungen. Sikhs und Hindus äschern ihre Toten traditionell ein – was
       von Muslimen in Afghanistan bestenfalls mit Befremden wahrgenommen wird.
       Oft werden die Beisetzungszüge aber auch ausgebuht und mit Steinen
       beworfen.
       
       Ungeachtet des in der Verfassung verankerten Schutzes von religiösen und
       ethnischen Minderheiten hätten weder die Regierung noch die Justizbehörden
       viel getan, um die Lage zu ändern, sagt Honarjar. „Soziale Diskriminierung
       und der Status zweiter Klasse in der afghanischen Gesellschaft sind die
       einzigen Gründe, Afghanistan zu verlassen“, sagt sie.
       
       Die anhaltende Diskriminierung ist für viele Sikhs besonders bitte, weil
       sie sich selbst als stolze Afghanen sehen. Einige haben für das Land sogar
       ihr Leben riskiert und in den 80er Jahren gegen die Sowjets gekämpft. Einer
       von ihnen ist Arindar Singh. “Unsere muslimischen Brüder kennen unsere
       Geschichte“, sagt er. „Sie können unsere afghanischen Pässe und Ausweise
       sehen, unsere Akten in den Büros der Behörden. Aber wenn wir zu ihnen
       kommen, sagen sie uns noch immer: „Du bist kein Afghane. Du bist Inder. Geh
       zurück in dein Land“.“
       
       12 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Humayoon Babur
   DIR Lynne O'Donnel
       
       ## TAGS
       
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