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       # taz.de -- Debatte Wohnen: Ein Recht auf den Kiez
       
       > Für Leute mit bescheidenem Einkommen muss es mehr Mietwohnungsneubau
       > geben. Das wirft heikle Gerechtigkeitsfragen auf.
       
   IMG Bild: Genug Raum für sozialen Wohnungsbau vorhanden: Berlin.
       
       Das ging schnell: Fast 50.000 Unterschriften haben die Aktivisten des
       [1][Mieten-Volksentscheids in Berlin gesammelt], die nötige Schwelle für
       den Start der ersten Stufe eines Volksbegehrens zur besseren
       Wohnraumversorgung wurde damit überschritten. Das Berliner Mieten-Begehren
       sieht den Rückkauf von ehemaligen Sozialwohnungen vor, eine
       Mietersubventionierung für Geringverdiener und den Neubau von bezahlbaren
       Wohnungen – letzterem Anliegen muss die Politik in den Metropolen mehr
       Augenmerk widmen.
       
       Denn während vielerorts über Vertreibung, Gentrifizierung und Milieuschutz
       gesprochen wird und immerhin die Mietpreisbremse kam, ist die Versorgung
       mit bezahlbarem zusätzlichen Wohnraum in den Metropolen ziemlich ungeklärt.
       Lediglich 12.000 Wohnungen werden derzeit im sozialen Mietwohnungsbau
       jährlich gebaut, gleichzeitig fallen in Deutschland aber jährlich 70.000
       bis 100.000 dieser Wohnungen aus der Mietpreisbindung heraus, rechnete die
       IG BAU kürzlich vor.
       
       Einfach nur neu zu bauen ohne zusätzliche Förderung hilft also wenig. Denn
       Neubaukosten und die Kaufkraft vieler Wohnungssuchender klaffen in den
       Metropolen weit auseinander. Nach Schätzungen der Wohnungswirtschaft muss
       ein Neubau, der nicht öffentlich gefördert wird, am Ende für eine
       Nettokaltmiete von mindestens zehn Euro vermietet werden, damit sich der
       Bau rechnet.
       
       Das liegt an den gestiegenen Baukosten und an den Grundstückspreisen, die
       auch durch die Immobilienspekulation in den Metropolen nach oben getrieben
       werden. Zehn Euro nettokalt, das sind für einen Single mit einer
       45-Quadratmeter-Wohnung fast 550 Euro Miete warm. Geringverdiener oder
       RentnerInnen mit einem Netto von 1.000, 1.200 Euro im Monat können sich das
       nicht leisten, von Hartz-IV-Empfängern ganz zu schweigen.
       
       Man kann natürlich die Mietshäuser einfach weit draußen vor der Stadt
       errichten, dort sind die Grundstückspreise niedriger. Aber man weiß aus
       Studien, dass langes Pendeln unglücklich machen kann. London dient gerne
       als abschreckendes Beispiel, weil manche Angestellten hier jeden Tag zwei
       Stunden in die Stadt hinein- und abends wieder hinauspendeln müssen. Kurze
       Wege sind nötig, auch weil in den Familien heute meist beide Partner
       arbeiten und die Transportlogistik mit Job, Kita und Wohnung kompliziert
       geworden ist.
       
       ## Bund und Länder sind gefordert
       
       Angesichts der vielen Singlehaushalte ist zudem der Wunsch nach einem
       durchmischten Kiez mit Gastronomie und Einzelhandel keine überflüssige
       Kiezromantik, sondern eine überschaubare Nachbarschaft kann ein Gefühl von
       Bindung und Heimat vermitteln. Die Verkäufer von Luxuswohnungen werben
       gerne mit dem „Szenekiez“ in der Umgebung, dessen Vitalität oftmals
       Geringverdiener geschaffen haben. Mietpreisgedeckelte Sozialwohnungen
       müssen auch auf Grundstücken „im Szenekiez“ erhalten bleiben oder neu
       entstehen können.
       
       Man kann auch billiger bauen. Im „Bündnis für bezahlbares Wohnen“, das bei
       der Bundesbauministerin angesiedelt ist, grübeln Experten darüber nach, wie
       man mit Fertigelementen, kleinen Grundrissen mit Wohnküchen, Laubengängen
       statt großer Hausflure Geld sparen kann. Im sozialen Neubau rückt man schon
       ab von den früheren Höchstgrenzen, die für einen Alleinstehenden ein
       Apartment mit 45 Quadratmetern vorsahen. In Berlin entstehen Appartements
       für Sozialmieter mit 34 Quadratmetern.
       
       Es gibt also schon Neubauprogramme mit Mietpreisdeckelung, aber es sind zu
       wenig. Und leider verlockt die Förderung mit billigen Darlehen allein viele
       Investoren nicht, weil sie gegenwärtig ganz normale, billige Bankkredite
       haben können, mit denen sie sich zu keiner späteren Belegungsbindung
       verpflichten. Der Deutsche Mieterbund hat also recht, wenn er mehr Hilfe
       vom Bund für den Wohnungsneubau in den Ländern fordert, mehr direkte
       Zuschüsse, mehr kostengünstige Abgaben von landeseigenen Grundstücken und
       bessere steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten für den Neubau von Wohnungen
       mit Belegungsbindung. Doch das kostet. Berlins Senator für
       Stadtentwicklung, Andreas Geisel (SPD) hat gewarnt, dass für Kitas, Schulen
       und Behindertenhilfen kein Geld mehr zur Verfügung stünde, würde das
       milliardenteure Mieten-Volksbegehren umgesetzt, das im Übrigen nur einem
       kleinen Teil der Bevölkerung in Berlin zugutekäme.
       
       ## Verteilungsdebatten
       
       Die Warnung Geisels zeigt bereits, dass die Politik das Geld für die
       Wohnungsbaupolitik gegen andere öffentliche Leistungen ausspielen könnte.
       Denn die Subventionierung von Mietwohnungen und Mietern trägt von jeher ein
       großes Verhetzungspotenzial in sich. Schon heute gibt es an Kneipentischen
       die Diskussion, ob Mieter überhaupt ein Dauerrecht hätten auf ihren Kiez
       und sich nicht damit abfinden müssten, nach weit draußen ziehen zu müssen,
       wenn die Mietpreise steigen, weil der Markt nun mal enger wird.
       
       Wer genau soll also wie in den Genuss der Förderungen kommen? Das ist die
       heikle Frage. In Berlin können derzeit Alleinstehende mit einem monatlichen
       Nettoeinkommen von bis zu 1.400 Euro eine geförderte Wohnung mit
       Preisbindung beziehen, in München gilt eine Obergrenze von 1.900 netto. Für
       Familien gibt es entsprechend höhere Grenzen. Kämen Subventionierungen
       dieser Gruppen im größeren Stil, könnten die ganz Armen auf der Strecke
       bleiben. Würden vor allem die Armen gefördert, könnten sich Familien mit
       Doppelverdienerschaft, hohen Ausgaben für den Nachwuchs und großem
       Raumbedarf als zu kurz gekommen fühlen, weil sie knapp über den
       Einkommensgrenzen liegen für den geförderten Wohnungsbau.
       
       Genau das ist der Horror jedes Regionalpolitikers: Verteilungsdebatten, in
       denen Arme, Angehörige der unteren und oberen Mittelschichten eine
       Opferkonkurrenz beginnen, als Leistungsempfänger oder als Steuerzahler oder
       als beides. Die Länderregierungen werden sich dieser Verteilungsfrage im
       Neubau stellen müssen. Weit draußen auf der grünen Wiese liegt die Lösung
       jedenfalls nicht.
       
       13 Jun 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Interview-mit-%E2%80%9EKotti-&-Co%E2%80%9C/!5201512/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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