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       # taz.de -- Neues Album von Rocko Schamoni: Vergessene und lebendige Geister
       
       > Das Universalgenie Rocko Schamoni veröffentlicht ein Album, das sich
       > alten Zeiten und vergessenen Songs widmet. Es lohnt sich.
       
   IMG Bild: Der Musiker und Schauspieler Rocko Schamoni singt 2014 in Hamburg im Thalia Theater.
       
       Die Gegenwart kann einem Sorgen bereiten, die Zukunft noch viel mehr. Die
       Vergangenheit aber, sie liegt in vermeintlich trockenen Tüchern hinter
       einem. Vielleicht redet Rocko Schamoni zurzeit deshalb so gern über die
       Vergangenheit.
       
       Denn seine Gegenwart dürfte von Sorgen um seinen Pudel Club in
       Hamburg-Sankt Pauli bestimmt sein, dem die Zwangsversteigerung droht. An
       diesem sonnigen Nachmittag hat man sich aus erfreulicherem Grund im
       Hamburger Karoviertel zusammengefunden. Er bietet noch dazu Anlass,
       ausgiebig in Erinnerungen zu schwelgen.
       
       Schamonis neues Album „Die Vergessenen“ ist vor Kurzem erschienen. Darauf
       geht es, genau, um Vergangenheit. Genauer gesagt, um dreizehn laut Schamoni
       zu Unrecht vergessene Songperlen, die er zusammen mit Sebastian Hoffmann
       neu interpretierte und zu Orchesterbegleitung in seinen Versionen aufnahm.
       
       Allein schon die Produktionsbedingungen von „Die Vergessenen“ wirken wie
       eine Reise in jene Zeiten der Musikindustrie, in denen man mit Alben noch
       viel Geld verdienen konnte. „Wer kann sich das heute schon noch leisten,
       ein voll ausgestattetes Orchester zu engagieren?“, fragt Schamoni
       rhetorisch.
       
       ## Crowdfunding für die Aufnahmekosten
       
       Er bediente sich für die Umsetzung dann ausgerechnet des Mediums, das für
       die schlechten Zeiten der Musikindustrie verantwortlich ist: dem Internet.
       In einer Crowdfunding-Aktion kamen prompt 40.000 Euro für die
       Aufnahmekosten zusammen. Etwa 1.000 Alben und Singles, schätzt Schamoni,
       habe er durchgehört, um die vergessenen Songs wieder auszugraben.
       
       Auffällig ist, dass das meiste Material der „Vergessenen“ aus den
       Achtzigern stammt – Ton Steine Scherbens „Morgenlicht“, „Was kostet die
       Welt“ von FSK aus München, „Ist das wieder so ’ne Phase“ von der Berliner
       Band Lassie Singers. Ein Zufall ist das keineswegs. Nicht nur fällt
       Schamonis Jugend und Adoleszenz in jene Zeit. Auch musikgeschichtlich
       spielt sie eine wichtige Rolle: „Ab 1980 kam die Erweckung der
       deutschsprachigen Popmusik“, meint Schamoni. „Nach der Nazizeit und der
       Auseinandersetzung mit dem ganzen Mist, der da passiert war, gab es damals
       endlich die Leichtigkeit, die es für Popkultur braucht.“ Punk- und
       NdW-Bands schossen in den frühen Achtzigern wie Pilze aus dem hiesigen
       Boden, die Produktion war dank billiger Aufnahmetechnik nicht mehr
       etablierten Stars wie Kraftwerk vorbehalten.
       
       „Es war ein betont lustvoller Aufbruch“, erinnert sich Schamoni, „weil man
       das Gefühl hatte, ganz viel an Bedeutung nachholen zu können, selbstbewusst
       zu zeigen: Wir können das auch, und so klingt unsere Version von Pop. Ein
       Befreiungsschlag!“
       
       Schamoni selbst führte Anfang der 1980er Jahre noch als Tobias Albrecht ein
       von den üblichen Frustrationen eines Teenagers geprägtes Leben im Dorf
       Lütjenburg nahe der Ostseeküste in Schleswig-Holstein. Längst hat er die
       Erinnerungen an seine Jugend als Punk in der Provinz künstlerisch in seinem
       Roman „Dorfpunks“ verarbeitet. Dessen Bestsellerstatus, seine Verfilmung
       und das gleichnamige Theaterstück mit dem Humor-Trio Studio Braun, das
       Schamoni gemeinsam mit Heinz Strunk und Jacques Palminger bildet, taten ein
       Übriges: Heute sind einer großen Fangemeinde die irren Geschichten von
       Schamonis jugendlichem Punk-Aufbegehren und seiner vom Arbeitsamt
       aufgezwungenen Töpferlehre ein Begriff.
       
       ## Ohne falsche Nostalgie
       
       Auch in seinem aktuellen, fünften Roman, „Fünf Löcher im Himmel“,
       beschäftigt sich Schamoni mit der Jugend. Sein Protagonist Paul, eine
       gescheiterte Existenz, begibt sich darin auf die Spuren seiner Herkunft, um
       herauszufinden, warum er so geworden ist, wie er ist. „Ich lebe nicht in
       der Vergangenheit“, sagt Schamoni, angesprochen auf das wiederkehrende
       Motiv in seiner künstlerischen Arbeit. Er stutzt einen Moment, so als müsse
       er sich kurz vergewissern, dass das auch stimmt, und knüpft dann an: „Aber
       die Vergangenheit ist ein reiches Feld, aus dem man viel schöpfen kann.“
       
       Schamonis großes Geschick liegt darin, bei der Rückschau nicht nur die
       eigenen, persönlichen Erinnerungen ohne falsche Nostalgie auszuloten,
       sondern auch verschiedene zeitspezifische Stile für seine Arbeit fruchtbar
       zu machen.
       
       So auch auf „Die Vergessenen“. Die Herkunft aus einer bestimmten
       musikalischen Epoche hört man den Stücken nicht mehr an, dafür bedienten
       sich Schamoni und Hoffmann für die neue Interpretation der Soundästhetik
       von 1960er- und 1970er-Jahre Filmmusik. Schamoni sagt, die großen
       Filmmusikkomponisten jener Zeit, Ennio Morricone, Nino Rota und John Barry
       seien Inspiration für die Klangästhetik von „Die Vergessenen“. „Nie wieder
       wurde so freies, irres, forschendes Kino gemacht wie zu der Zeit“, erklärt
       Schamoni. „Die dazugehörigen Soundtracks klingen dementsprechend
       experimentell und ambivalent, weniger vorhersehbar als die Musik heutiger
       Produktionen.“
       
       Und so bedient sich „Die Vergessenen“ ganz subtil der musikalischen Mittel
       der Gefühlserzeugung und klingt damit durch und durch nach einer
       träumerischen, bisweilen ungeahnt emotional aufgewühlten Erinnerung an
       vergangene Zeiten. Die orchestrierte Filmmusik-Ästhetik steht dabei nicht
       nur den „ollen Kamellen“ aus den 1980ern gegenüber, sondern auch den
       aktuelleren Stücken, etwa der Interpretation des Songs „Das Zelt“ (2008)
       der Berliner Band Jeans Team, in dem mit kräftiger Unterstützung der Bläser
       Freiheit und Aufbruch besungen werden: „Kein Gott / Kein Staat / Keine
       Arbeit / Kein Geld / Mein Zuhause / ist die Welt.“
       
       Manch eine mag ein so ernsthafter und gefühlsbetonter Schamoni, wie er sich
       auf „Die Vergessenen“ zu erkennen gibt, verwundern. Schon die Reaktionen zu
       seinem neuen Roman spielten oft in diese Ecke: Da seht mal her, der
       Humorist kann auch ernst! Schamoni selbst kann darüber nur den Kopf
       schütteln. „Das ist das deutsche Schubladendenken“, sagt er.
       
       ## Himmelhoch jauchzend
       
       Schamoni macht keinen Hehl daraus, dass er regelmäßig von Depressionen
       heimgesucht wird. Die Auseinandersetzungen damit bilden einen wichtigen
       Teil seiner künstlerischen Produktivität. „Depressionen sind wie lebendige
       Geister in meinem Leben“, sagt Schamoni. „Wenn sie kommen, bin ich
       gefangen. Aber in der Gefangenschaft lerne ich viel über mich.“
       
       In helleren Phasen setzt sich Schamoni mit dem Blick in die Dunkelheit
       auseinander und fühlt sich bisweilen „himmelhoch jauchzend“. Und weil diese
       Ambivalenz von seinem Publikum schlecht ausgehalten werden kann, hat er
       sich verschiedene Plattformen geschaffen, auf denen das eine oder andere
       geht: Studio Braun, um über sich selbst und die Abgründe zu lachen. Das
       Schreiben, um sie analytisch und poetisch zu erforschen. Und die Musik
       vielleicht, um seiner Vorliebe für das Abseitige, Unergründliche, Ausdruck
       zu verleihen.
       
       Wenn er könnte, sagt Schamoni, würde er sich mit einem Orchester auf einen
       Hof zurückziehen und nur noch Musik machen. „Einmal im Monat auftreten,
       ansonsten nur produzieren und abliefern“, schwärmt Schamoni. Noch lieber
       würde er die verfallende Schilleroper im Hamburger Schanzenviertel wieder
       eröffnen und bespielen. Die allerdings ist letztes Jahr an einen Investor
       verkauft worden, der hier Wohneinheiten bauen will. Ach, die Gegenwart ist
       hässlich.
       
       14 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carla Baum
       
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