URI: 
       # taz.de -- Wolfgang-Herrndorf-Ausstellung: Der perfekte Pinselstrich
       
       > Der Autor Wolfgang Herrndorf war auch Maler. Er hat die ganze
       > Kunstgeschichte drauf, ist handwerklich toll – gerade deshalb bleiben
       > Fragen offen.
       
   IMG Bild: Wolfgang Herrndorf, ohne Titel (Ausschnitt).
       
       Klare blaue Augen, volle Lippen und dunkles Haar. Ein junger Mann in Jeans
       und T-Shirt steht vor einem Fenster. In der rechten Hand hält er eine
       Bohrmaschine, in der linken den Bohrfutterschlüssel, der zwischen
       Mittelfinger und Daumen geklemmt ist. Mit bestimmendem Blick fixiert er die
       Markierung für das Bohrloch, die sich außerhalb des Bildraums befindet. So
       sieht ein Selbstporträt des jungen Wolfgang Herrndorf aus.
       
       Dieses Gemälde sticht heraus: nicht nur, weil es eine der wenigen Arbeiten
       in der Ausstellung „Wolfgang Herrndorf: Bilder“ im Literaturhaus Berlin
       ist, die nicht dem Kontext Karikatur oder Illustration zuzuordnen sind.
       Sondern weil Herrndorf auf diesem Bild als Handwerker zu sehen ist, anstatt
       sich mit Pinsel und Palette als Maler zu inszenieren. Das Bild erzählt eine
       Geschichte, der Bohrfutterschlüssel und das zerrissene Hemd lassen einen
       bereits misslungenen Bohrversuch erahnen. Diese Geste zeugt von
       Perfektionismus. Einer Eigenschaft, die Wolfgang Herrndorf immer wieder
       zugeschrieben wurde: als Maler wie als Autor.
       
       Wenn eine Ausstellung die Bilder eines Schriftstellers präsentiert, werden
       diese oft skeptisch beäugt. Kann es nicht nur eine einzige „wirkliche“
       Profession für einen Künstler geben? Sind Herrndorfs Bilder gar Produkte
       einer Hobbytätigkeit? War er ein ernstzunehmender Maler?
       
       ## Professionell und kenntnisreich
       
       Gleich im ersten Ausstellungsraum wird diese Frage beantwortet: Man erkennt
       vor allem Herrndorfs Professionalität. Der Kalender „Klassiker Kohl“ des
       Haffmans Verlags für das Jahr 1998 zeigt Herrndorf als exzellenten
       Handwerker. Die zwölf Bilder des Kalenders sind eine lange Reise durch die
       Kunstgeschichte: Helmut Kohl im Stil von Lucas Cranach, Pablo Picasso, René
       Magritte, Georg Baselitz. Alle Stilrichtungen werden von Herrndorf bis ins
       Detail beherrscht. Unweigerlich muss man hier an Kunstfälscher Wolfgang
       Beltracchi denken, der Ende letzten Jahres in der Arte-Dokumentation „Der
       Meisterfälscher“ etwa Harald Schmidt im Stil von Otto Dix vor der Kamera
       porträtierte.
       
       Doch Herrndorf, der an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg
       studierte, konnte nicht nur nahezu jeden Stil der Kunstgeschichte
       imitieren. In seinen Bildern zeigt sich gleichermaßen ein kenntnisreiches
       Studium bedeutender Motive der Kunstgeschichte, die er immer wieder als
       Referenz heranzog, etwa auch in seinen Karikaturen, die er ab Mitte der
       1990er Jahre für das Satire-Magazin Titanic anfertigte und die den weitaus
       größten Teil der Ausstellung ausmachen.
       
       Es fällt ein Ungleichgewicht zwischen handwerklichem Aufwand und spontanem
       Witz ins Auge. Doch der spezifische Humor Herrndorfs entsteht erst durch
       seine Beharrlichkeit in der Ausführung sowie den Anachronismus, der durch
       die kunstgeschichtlichen Referenzen entsteht. Die Pointe, sonst bei einer
       Karikatur durch reduzierte Ausgestaltung gekennzeichnet, wird Herrndorf zum
       Anlass, seine Fertigkeiten obsessiv unter Beweis zu stellen.
       
       ## Strategie oder Verlegenheit?
       
       Wenn altmeisterliche Techniken angewendet werden, vermutet man dahinter
       eine Strategie der Aufwertung. Doch werden bei Herrndorf nicht die Inhalte
       aufgewertet, sondern das Handwerk selbst. Dabei spielt es eine
       untergeordnete Rolle, in welchen Bereichen seine Könnerschaft Anwendung
       findet: auf Buchumschlägen, Kalendern oder in Magazinen. Unklar bleibt nur,
       ob es sich dabei um eine Strategie handelt oder doch eher um eine
       Verlegenheit. Wusste er vielleicht nicht, was er malen sollte?
       
       In jedem Fall bekommt man das Gefühl, dass die Könnerschaft Herrndorf nicht
       ausreichte. Anders als Beltracchi, der sich mit Handwerk zufriedengibt,
       wollte Herrndorf mehr. Mit dem Teppichmesser sei er auf die eigenen
       Leinwände losgegangen, liest man in seinem Tagebuch „Arbeit und Struktur“.
       Er litt an seiner Kunst, am Leben. Er durchlebte künstlerische Krisen. Er
       empfand Geld als notwendiges Übel. Insofern war er doch auch ein Bohemien.
       All das erfährt man zwar aus seinen Schriften – nicht aber aus seinen
       Bildern.
       
       In den Reaktionen auf die Ausstellung sind die Bemühungen groß, den Autor
       als Maler zu würdigen. Und doch tritt eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang
       mit den ausgestellten Werken zutage. Denn bloßes Handwerk ist etwas, das
       dem Intellektuellen eigentlich fernliegt. Oft hängt man noch der
       romantischen Vorstellung nach, nur Auserwählte seien zur Kunst befähigt.
       Kunst sei eine Gabe, keine Fertigkeit. In diesem Sinne gilt das Handwerk in
       der bildenden Kunst seit der Moderne eher als Ausdruck einer Hilflosigkeit.
       
       Anders in der Literatur: Hier wird Handwerk nach wie vor als Voraussetzung
       für jedes ernstzunehmende Werk gesehen. Womöglich wurde die Literatur für
       Herrndorf gerade deshalb zu etwas, das er nicht nur gut konnte. Sondern,
       womit er etwas Großes geschaffen hat.
       
       17 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annekathrin Kohout
       
       ## TAGS
       
   DIR Wolfgang Herrndorf
   DIR Ausstellung
   DIR Malerei
   DIR Schriftsteller
   DIR Soziale Medien
   DIR Literatur
   DIR Literatur
   DIR Malerei
   DIR Tschick
   DIR Wolfgang Herrndorf
   DIR Wolfgang Herrndorf
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wie rechts ist die KI-Ästhetik?: Bildpolitiken des Affekts
       
       Von KI generierte Bilder dienen als Wunschmaschine und
       Propagandainstrument. Dabei ist die neue Technik zu wichtig, um sie den
       Rechten zu überlassen.
       
   DIR Biografie über Autor Wolfgang Herrndorf: Jenseits der Festanstellung
       
       Vor dem Aufstieg Wolfgang Herrndorfs als Schriftsteller kam das Scheitern
       als Künstler. Tobias Rüther hat über ihn eine kundige Biografie
       geschrieben.
       
   DIR Autor über Depressionen: Wie Neptun um die Sonne
       
       Benjamin Maack erzählt von Depressionen: „Wenn das noch geht, kann es nicht
       so schlimm sein“. Eine ganz persönliche Sicht.
       
   DIR Otto-Dix-Ausstellung in Colmar: Biblisches vom großen Realisten
       
       Vor 500 Jahren wurde der Isenheimer Altar vollendet. Der war Inspiration
       für Otto Dix, dessen 125. Geburtstag am 2. Dezember gefeiert wird.
       
   DIR Verfilmung von Herrndorfs Roman: „Das ist Tschick.“
       
       Auf der Buchmesse wurde über Herrndorfs „Tschick“ diskutiert. Und die eher
       ungewöhnliche Frage: „Musste das überhaupt verfilmt werden?“
       
   DIR Wolfgang Herrndorf als Maler: Spiel mit konservativen Bildsprachen
       
       Die Bilder des Autors und Illustrators sind im Berliner Literaturhaus zu
       sehen: Karikaturen, Buchcover und Ölgemälde in altmeisterlichem Stil.
       
   DIR Wolfgang Herrndorfs neuer Roman: Verrückt, aber nicht bescheuert
       
       Posthum ist Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“ erschienen –
       ein Roadmovie in Romanform über Isa, die aus der Klapse entschlüpft.