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       # taz.de -- Kanadisch-südafrikanische Literatur: Die äußere Welt als Naturgewalt
       
       > Kenneth Bonert hat einen fesselnden Roman über eine jüdische Familie im
       > Johannesburg der dreißiger und vierziger Jahre geschrieben.
       
   IMG Bild: Mix aus aller Welt: Der kanadisch-südafrikanische Autor Kenneth Bonert mit litauisch-jüdischen Wurzeln.
       
       Eigentlich habe er ursprünglich ein zweiter Hemingway werden wollen, gibt
       Kenneth Bonert mit feinem selbstironischem Grinsen zu. Mit diesem Ziel
       studierte er am College Publizistik und träumte davon, in Paris im Café zu
       sitzen und Weltbeobachtungen zu vollendeten Sätzen zu formen. Stattdessen
       landete er zunächst einmal als Lokalreporter in der kanadischen Provinz und
       versuchte sich nebenher als Schriftsteller. „Damals habe ich mich vor allem
       an Kafka orientiert“, das Grinsen wird breiter, „ohne damit wirklich Erfolg
       zu haben.“
       
       Größere Aufmerksamkeit wurde seinen Texten erst zuteil, nachdem er für sich
       und die Literatur etwas Neues entdeckt hatte: dem einzigartigen Sprachen-
       und Kulturmix Südafrikas literarische Form zu geben. Dort kommt Kenneth
       Bonert nämlich eigentlich her. Als Staatsbürger fühle er sich natürlich als
       Kanadier, sagt er heute, aber die prägenden Jahre seine Lebens hat der
       mittlerweile 43-Jährige in Südafrika verbracht. Als er 17 Jahre alt war,
       emigrierte die ganze Familie nach Kanada.
       
       Es sei vor allem sein Vater gewesen, der die Emigration betrieben habe,
       sagt Kenneth Bonert. Der habe es aus politischen Gründen nicht mehr im
       damaligen Apartheidstaat ausgehalten. „Wir hatten, anders als alle anderen,
       zum Beispiel niemals ein Hausmädchen“, erinnert er sich. Seine Eltern
       hätten den Haushalt ganz allein besorgt. „Mein Vater war immer derjenige,
       der abwusch. Ein weißer Mann, der Geschirr spült - das war etwas absolut
       Unerhörtes.“
       
       Kenneth Bonerts Beschäftigung mit seinen südafrikanischen Wurzeln hat
       mittlerweile reichlich Früchte getrieben. Nach etlichen Short Stories
       veröffentlichte er 2013 seinen ersten Roman „Der Löwensucher“, der soeben
       in deutscher Übersetzung erschienen ist. In der Folge sitzt der Autor jetzt
       zwar nicht in einem Pariser Café, aber immerhin in einem Berliner
       Restaurant. Er ist auf Lesereise durch Deutschland. Seine Frau Nicole ist
       auch mitgekommen.
       
       ## Sechs Jahre für 800 Seiten
       
       Ihr regelmäßiges Einkommen als Bankangestellte - im Risikomanagement - hat
       es Bonert ermöglicht, ungefähr sechs Jahre lang intensiv an seinem Buch zu
       arbeiten, mit nur kleineren Jobs nebenbei. „Der Löwensucher“ ist mit
       seinen, in der deutschen Ausgabe, 800 Seiten ein echter Wälzer geworden -
       etwas, das der Autor so nie geplant hatte. Es sei einfach so gekommen. Er
       habe geschrieben und geschrieben, bis er das Gefühl hatte, fertig zu sein.
       
       Das klingt bestechend einfach. Aber es muss etwas Wahres daran sein, denn
       auch auf der Lektüreseite ist „Der Löwensucher“ ein Buch geworden, das man
       liest und liest, bis man damit fertig ist. Kenneth Bonert hat einen
       ungemein lebendigen historischen Roman geschrieben. Er spielt im Südafrika
       der dreißiger und vierziger Jahre, und sein Protagonist, der junge Isaac,
       ist ein Held, der nicht immer ganz einfach zu goutieren ist. Er wächst in
       einem Arbeiterbezirk von Johannesburg auf, der von vielen Juden bewohnt
       wird - vornehmlich Einwanderern aus Litauen.
       
       Auch Isaacs Eltern sind Juden und, als er noch ein sehr kleiner Junge war,
       aus Litauen gekommen, halb gelockt durch die Erzählungen anderer
       Auswanderer, halb fortgetrieben durch schreckliche Erlebnisse während des
       Ersten Weltkriegs, die jedoch innerhalb der Familie als Geheimnis behandelt
       werden. Erst der erwachsene Isaac wird erfahren, warum das Gesicht der
       Mutter in seiner frühen Kindheit noch so entstellt war, dass sie operiert
       werden musste.
       
       Diese Mutter, Gitelle, ist die zweite große Persönlichkeit des Romans,
       ebenso willensstark und unbeugsam wie ihr Sohn, ihm über die Maßen zugetan
       und dabei doch, anders als das tradierte Klischee der liebenden jüdischen
       Mame es vorsieht, von einer großen äußeren Härte, die sich, auf die
       Erziehung des Sohnes angewandt, als gewissermaßen schicksalhaft erweist.
       
       ## Furioser Rachefeldzug
       
       Isaac, von Natur aus von überschäumendem Charakter, lernt von Gitelle, nach
       außen keine Schwächen zu zeigen und sich nichts gefallen zu lassen. Sein
       Temperament und seine Furchtlosigkeit bringen ihn ebenso oft in
       Schwierigkeiten, wie sie ihn weiterbringen. Als Teenager fliegt er von der
       Schule, weil er einer Lehrerin nachstellt. Später gelingt es ihm mit
       Ausdauer und Beharrlichkeit, eine zärtliche, wenngleich heimliche Beziehung
       zu einem hübschen, wohlbehüteten Mädchen aus reichem Hause aufzubauen.
       
       In der Karosseriewerkstatt, wo er eine Lehre macht, wird Isaac von einem
       antisemitischen Kollegen drangsaliert, holt aber zu einem furiosen,
       gewalttätigen Rachefeldzug aus. Doch es nützt alles nichts. Isaac scheint
       lange Zeit stets den Kürzeren zu ziehen - was oft, aber durchaus nicht
       immer auf den latenten oder offenen Antisemitismus seiner Umgebung
       zurückzuführen ist. Die Werkstatt kündigt ihm. Etwa gleichzeitig wendet
       seine Freundin sich einem anderen zu.
       
       Die Gründe hierfür allerdings sind im Roman komplexer angelegt und hängen
       damit zusammen, dass Isaac, allzu sehr um sein persönliches Fortkommen
       bemüht, sich politisch völlig gleichgültig verhält - vor allem gegenüber
       dem Schicksal der schwarzen Südafrikaner, die im Zuge der verstärkten
       Apartheidmaßnahmen der dreißiger und vierziger Jahre immer weiter aus der
       Gesellschaft gedrängt werden.
       
       Als noch fataler erweist sich Isaacs radikaler Egozentrismus angesichts der
       heraufziehenden Katastrophe in der ehemaligen Heimat seiner Eltern. Während
       der Zweite Weltkrieg begonnen hat und die Bedrohung für Leib und Leben der
       in Litauen zurückgebliebenen Verwandten zunimmt, muss Isaac zusehen, wie
       seine Mutter deshalb von Sorgen zerfressen wird.
       
       ## Geheimnisvolle Begegnung
       
       Bis sie ihren Sohn eines Tages mitnimmt, um einen Besuch bei jemandem zu
       machen, der allein über die nötigen ökonomischen Mittel verfügt, um für die
       in Litauen Verbliebenen den Weg nach Südafrika freizukaufen. Doch Isaac
       deutet die Begegnung mit diesem geheimnisvollen Mann vor allem als
       schicksalhaften Wendepunkt für sein eigenes Leben.
       
       Dadurch, dass Bonert einen Protagonisten ins Zentrum des Geschehens stellt,
       der alles auf sich selbst bezieht und blindlings handelt, ohne die Folgen
       zu bedenken, wird die äußere Welt gleichsam als Naturgewalt dargestellt, in
       der auch der Mensch nur durch Gewalt bestehen kann. Das ambivalente
       Verhältnis zur Hauptfigur, das sich bei der Lektüre unweigerlich aufbaut,
       trägt wesentlich zur Spannung des Romans bei.
       
       Es ist eine inhärente Spannung, die gar nicht einmal so sehr von äußeren
       Ereignissen getriggert wird, sondern vielmehr in der nicht immer
       glücklichen Entwicklung des Helden begründet liegt. So mit- und durchaus
       auch hinreißend dieser Isaac auf der einen Seite gezeichnet ist, so schwer
       ist es andererseits, sich mit ihm zu identifizieren. Manchmal sind seine
       Haltungen und Handlungen kaum zu begreifen, haben aber auf einer tieferen
       Ebene, wie man ahnt, ihre Wurzeln auch in verschwiegenen Familientraumata.
       All das wird nur angedeutet und bleibt gerade dadurch stimmig und
       interpretationsoffen.
       
       Er habe sich in vielem von der Geschichte seiner eigenen Familie
       inspirieren lassen, erläutert Kenneth Bonert den historischen Hintergrund
       für seinen Romanstoff. Auch seine Familie stamme aus Litauen, und auch
       seine Großeltern seien nach dem Ersten Weltkrieg nach Südafrika
       ausgewandert. (Übrigens hat ein Großteil der südafrikanischen Juden
       litauische Vorfahren.)
       
       ## Die Erzählungen der Großmutter
       
       Dass er selbst so viel über die damalige Zeit wisse, habe er vor allem
       seiner Großmutter zu verdanken, die ihm sehr viel erzählt habe. Dieser
       Großmutter verdankt er außerdem seine Kenntnisse des Jiddischen, das an
       zahlreichen Stellen in den Roman eingeflossen ist. Sie habe fast immer
       Jiddisch mit ihm gesprochen, ganz anders als seine Eltern, die es nur
       sprachen, wenn sie nicht verstanden werden wollten. „Ich habe es aber
       trotzdem gelernt!“, lacht er. Aufgrund der sprachlichen Ähnlichkeit ist
       Kenneth Bonert übrigens in der Lage, den Kaffee zum Dessert bei der
       Berliner Kellnerin in einwandfreiem Deutsch zu bestellen.
       
       Als ich zum Schluss noch frage, woran er gerade arbeitet, stellt sich
       heraus, dass sein nächster, offenbar ebenso dickleibiger Roman schon fast
       fertig ist. „Es ist eine Art Fortsetzung des ersten“, erklärt er. Während
       der erste rein historischen Charakter habe, seien in den zweiten mehr von
       seinen eigenen Erfahrungen eingeflossen. Wenn er ihn abgegeben hat, will
       der Autor als Nächstes endlich wieder einmal eine Reise nach Südafrika
       unternehmen. Das gibt sicherlich inspirierenden Stoff für einen dritten
       Roman.
       
       21 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Granzin
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
   DIR Literatur
   DIR Schriftsteller
       
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