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       # taz.de -- Spielfilm „Underdog“ aus Ungarn: Das Straßenleben der Hunde
       
       > Viel mehr als eine Parabel auf das xenophobe Ungarn der Gegenwart:
       > „Underdog“ von Kornél Mundruczó schaut einem tierischen Aufstand zu.
       
   IMG Bild: „Underdog“ spielt souverän mit dem Bild eines kommenden Aufstands.
       
       Von Freiheit hat Hagen keinen Begriff. Hagen ist ein Hund, der dem
       12-jährigen Mädchen Lili (Zsófia Psotta) gehört. Er ist vollkommen auf ihre
       Gegenwart ausgerichtet und schenkt ihr jene unbedingte Zuneigung, die sie
       durch ihre Familie nur entfernt erfährt. Wenn er die Nacht nicht im selben
       Zimmer schlafen darf, winselt er so erbärmlich, bis sie zu ihm kommt. Hagen
       ist eine hellbraune Promenadenmischung, die im gegenwärtigen Ungarn nicht
       gern gesehen wird, nur reinrassige Exemplare gelten etwas. Als Lilis
       überforderter Vater Hagen aussetzt, wird das Tier deshalb nicht nur mit
       einer unbekannten Freiheit konfrontiert, sondern auch auf seine nackte
       Existenz zurückgeworfen.
       
       Wenn das Kino auf den Hund kommt, sind in der Regel Menschen und ihre
       sozialen Defizite gemeint. Kornél Mundruczós Film hieß international
       zunächst „White God“ – in Deutschland ist er nun auf „Underdog“ unbenannt
       worden. Der ursprüngliche Titel erschien wie eine überdeutliche Anspielung
       auf Sam Fullers „White Dog“ aus dem Jahr 1982. Fullers Film, ein furiose,
       unsentimentale Anklage des Rassismus in den USA, erzählt von einem
       weißhaarigen Schäferhund, der darauf abgerichtet wurde, Schwarze zu
       attackieren. Eine Moritat in der Verpackung eines sensationalistischen
       B-Movies: Der Hund soll umprogrammiert, in ein gesellschaftsfähiges Wesen
       zurückverwandelt werden. Doch sein Hass richtet sich auf eine andere
       Hautfarbe aus.
       
       Mundruczó hat Fullers Film erst gesehen, als sein eigener bereits abgedreht
       war. Seine Inspiration bezog der 40-jährige Ungar, der neben dem
       Filmemachen auch regelmäßig fürs Theater arbeitet, durch den Besuch eines
       Tierheims, der ihn bis ins Mark erschüttert hat, da die Tiere an diesem Ort
       nur auf ihren Tod gewartet haben. Er beschloss, einen Film zu drehen, mit
       einem integren Helden, erzählt Mundruczó in Interviews, der sich nicht
       erschüttern ließ: ein Hund, der menschlicher als ein Mensch wirkt, aber
       nicht vermenschlicht wird – „wie Humphrey Bogart“. In hündischer Form
       könnte man an solche Heroen nämlich noch festhalten.
       
       „White Dog“ und „Underdog“ eint auch, dass sie auf Strukturen des
       Genrekinos aufbauen. Seit seinem noch naturalistischen Debüt „Schöne Tage“
       (“Szép napok“, 2002) hat Mundruczó in seinen Filmen zunehmend historische
       und literarische Stoffe eingebunden, oft in Wechselwirkung mit den
       Theaterproduktionen.
       
       „Underdog“ bewegt sich unbeschwerter, direkter und aktionsbetonter als
       seine Vorgänger durch den Bilderkanon. Den ersten Teil vergleicht der
       Regisseur mit Steven Spielbergs „E. T. – der Außerirdische“. Das Mädchen
       und der Hund formen ein Einheit, der eine beinahe plakativ grobe Außenwelt
       gegenübersteht. Lilis Vater, ein Veterinärmediziner, hat keine Geduld für
       ihre Bedürfnisse. Dass er Hagen einfach an einer Straße aussetzt, ist eine
       rücksichtslose Tat.
       
       „Underdog“ wird von erzählerischen Parallelführungen bestimmt, ehe er am
       Ende mit einer eindrucksvollen Montage auf eine erstaunliche Apotheose
       zuläuft. Der Film greift sowohl die Geschichte des Mädchens wie auch jene
       des Hundes auf, sobald sie voneinander getrennt sind. In beiden Fällen kann
       man von Coming-of-Age-Dramen sprechen, die ihre jeweiligen Protagonisten an
       die Grenzen ihrer Möglichkeiten führen. Hagen muss die Außenwelt erst
       schrittweise entdecken, eine Welt der Gefahren und Fallen, voller
       bedrohlicher Objekte und Geräusche, bevölkert von Menschen, die ihn
       einfangen, für ihre Zwecke einspannen oder gar beseitigen wollen.
       
       In vergleichbarer Weise gilt dies auch für Lili, die an der Schwelle der
       Pubertät steht, mit ihrem Vater im Clinch liegt und offen gegen
       Disziplinarmodelle rebelliert, darunter auch jenes des Musikunterrichts,
       der „ihre Trompete“ auf eine bestimmte Funktion im Orchester festlegt.
       
       ## Der Hund wird zur Ware
       
       Mundruczó hat den Film ausschließlich mit realen Hunden inszeniert – auf
       CGI wurde konsequent verzichtet. Die kostspielige Entscheidung ist zugleich
       eine moralische, denn sie stattet diese Fabel über die menschliche
       Anmaßung, sich Tiere zu Untertanen zu machen, erst mit dem notwendigen
       Realismus aus. Zwar handelt es sich bei „Underdog“ um keinen realistischen
       Film, doch wir sehen Hunde, die trotz aller Abrichtung ihre animalische
       Eigenständigkeit behalten.
       
       Wie sich der Film dem Straßenleben der Hunde annähert, erinnert an die
       Abenteuer des Tramps von Charlie Chaplin. Hagen hat bald eine struppige
       Verehrerin an seiner Seite, die mit den Regeln des Outdoor-Daseins besser
       vertraut ist als er. Schön ist zum Beispiel die Einstellung, wenn die
       Tierfänger nach einer Verfolgungsjagd wieder abfahren und danach aus jedem
       Hauseingang ein Köter bedächtig auf die Straße zu schlendern scheint.
       
       Allerdings belässt es „Underdog“ nicht bei dieser freundlich-humanistischen
       Perspektive auf die Tierwelt, sondern schraubt das Geschehen weiter, in
       Richtung gewaltsame Zurichtung. Für Hagen gibt es auf der Straße keine
       Solidarität. Er gerät in die Fänge eines Mannes, der Hunde für bestialische
       Wettkämpfe trainiert.
       
       Die Sequenz erzählt eine Art Vorgeschichte von Fullers „White Dog“, mit dem
       Unterschied, dass der Hund nicht auf Rassismus gepolt wird, sondern zum
       Kampfhund geschunden wird, der einer perfiden Logik des Kapitals gehorcht.
       Er wird zur Ware, auf die man wettet, wobei sein neuer Besitzer gerade von
       Hagens „Herz“ überzeugt ist – er ist, anders als viele seiner Artgenossen,
       noch nicht ganz auf seinen Instinkt zurückgefallen. Die tragische Seite des
       Films rührt von diesem abgeklärten Blick auf eine Gesellschaft, die den
       schutzlosesten Wesen ihre sozialen Fähigkeiten austreibt.
       
       Ist „Underdog“ auch als Parabel auf das xenophobe Ungarn unter dem
       Rechtspopulisten Viktor Orbán ernst zu nehmen? Wie jeder gelungene Film
       geht er über solche Analogien hinaus und zielt lieber ins Universelle. Der
       letzte Stufe von Kornél Mundruczós Film ist dabei jene, mit der er sich am
       stärksten zum Fantastischen hinbewegt. Aus Hagen wird ein Rebell, der eine
       Gegenreaktion anführt – auf eine empathieschwache Gesellschaft fällt jene
       Gewalt zurück, die sie den Ausgeschlossenen zuallererst eingeimpft hat. Die
       große Geste, mit der „Underdog“ diese an Horrorfilmen angelehnte
       Rachefantasie umsetzt, spielt souverän mit dem Bild eines kommenden
       Aufstands, wie er so weit von der Wirklichkeit nicht entfernt erscheint.
       
       25 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominik Kamalzadeh
       
       ## TAGS
       
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