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       # taz.de -- Sagenhaftes und Reales: Wie die Ratte nach Hameln kam
       
       > Eine Ratte ist erstmal eine Ratte. Doch der Mensch verteufelt und
       > bewundert sie. Über die Geschichte einer Sage und die Stadt, die von ihr
       > lebt.
       
   IMG Bild: Seit 20 Jahren Rattenfänger: Michael Boyer in Hameln.
       
       Ratten führen Rattenleben. Sie kommen zur Welt, sie wachsen auf, sie
       spielen, sie schützen sich vor Feinden, sie fressen, viele von ihnen
       pflanzen sich fort, sie sterben. Dazwischen passiert je nach Ratte und
       Wohnort noch vieles andere. Doch eine Ratte ist erstmal eine Ratte.
       
       Trotzdem haben wir Menschen ein besonderes Verhältnis zu diesen Tieren: Der
       Gedanke an sie ruft Ekel hervor, sie stehen für die Pest, für Verfall und
       Verwesung. „Das Bild, das wir von den Ratten haben, sagt mehr aus über uns
       als über die Tiere“, sagt Roland Borgards. Der Literaturwissenschaftler
       forscht auf dem Gebiet der Mensch-Tier-Beziehungen.
       
       Als Kulturfolger begleitet uns die Ratte schon lange: Sie sucht die Nähe
       des Menschen, weil sie einen Nutzen daraus zieht. Wo der Mensch ist, ist
       Nahrung. Im Fall der Ratte, sagt Borgards, verweise diese Eigenschaft auf
       die Kehrseite der menschlichen Kultur: den Müll.
       
       In den Städten ernährt sich die Ratte von dem, was der Mensch weggeworfen
       hat. Sie bewegt sich in der Kanalisation. Die Ratte stehe für die
       Schattenseite, das Verdrängte und Unbewusste: „Das ist eine starke
       Projektion.“
       
       ## Die Schlaue
       
       Während die Ratte in Europa bekämpft wird, sieht man sie in Asien positiv:
       Im chinesischen Tierkreiszeichen steht die Ratte für Intelligenz,
       Unabhängigkeit, Zielstrebigkeit. Der hinduistische Gott Ganesha reitet auf
       einer Ratte, die ebenfalls Intelligenz und Stärke verkörpert. Auch in
       Europa kennt man dieses Bild. Bei Experimenten mit Ratten etwa wird von
       ihrem Verhalten auf das der Menschen geschlossen. Die europäische Tradition
       wirft der Ratte ihre Intelligenz aber vor: Sie nutze ihre Schlauheit, um
       dem Menschen zu schaden. Alfred Brehm beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts
       in seinem „Thierleben“ Ratten als „abscheuliche Thiere“: „Sobald sie
       merken, daß der Mensch ihnen gegenüber ohnmächtig ist, nimmt ihre Frechheit
       in wahrhaft erstaunlicher Weise zu“.
       
       Die einen sehen die Ratte als ein Symbol für Verwesung, Krieg, Ekel und
       List, die anderen für Intelligenz, Stärke und Ehrlichkeit. Kaum ein Tier
       bekommt gleichzeitig so positive und negative Eigenschaften zugeschrieben.
       
       Das starke Bild, das wir von der Ratte haben, zeigt sich in vielen Büchern
       und Filmen. Bereits im Stummfilm „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922 landen die
       Ratten und der Vampir an der Nordseeküste und bringen die Pest über die
       Stadt. In der Literatur gibt es etwa Günter Grass’ „Die Rättin“ und Gerhart
       Hauptmanns Theaterstück „Die Ratten“.
       
       ## Die Sage
       
       „Der Rattenfänger von Hameln“ ist die berühmteste Rattengeschichte. Dabei
       tauchen in der ursprünglichen Version gar keine Ratten auf.
       
       Ein Lutheraner schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts über die Entführung der
       Hamelner Kinder durch den Teufel, die sich 300 Jahre zuvor ereignet haben
       soll. Tatsächlich glauben manche Hamelner bis heute, dass im 13.
       Jahrhundert 130 Kinder verschwanden. „Reine Spekulation“, sagt der
       Literaturwissenschaftler Hans-Jörg Uther. Aber die Geschichte verbreitete
       sich schnell.
       
       1577 legte dann der Arzt Johannes Weyer die Grundlage für die Sage, wie wir
       sie heute kennen: Demnach wütete in Hameln eine Rattenplage. Ein Fremder
       kam in die Stadt und bot gegen Lohn seine Hilfe an. Weyer gab ihm den Namen
       „Bundting“ wegen seiner bunten Kleidung.
       
       Der Trick: Mit einer Pfeife lockte er die Ratten in die Weser. Die Hamelner
       brachen ihr Versprechen und bezahlten ihn nicht. Dafür rächte sich der
       Fremde. In Gestalt des Teufels entführte er 130 Hamelner Kinder mit seinem
       Flötenspiel.
       
       Warum Ratten, warum in dieser Stadt? Das sei unklar, sagt
       Literaturwissenschaftler Uther. Schon immer habe es am Weserufer viel
       Getreide und Mühlen gegeben, also Nahrung für Ratten. Es könnte sein, dass
       Hameln im Mittelalter tatsächlich eine Rattenplage hatte. Eine weitere
       Erklärung: Wiederholungen sind ein typisches Motiv, das sich auch in
       anderen Sagen und Märchen finden lässt – erst die Ratten, dann die Kinder.
       
       ## Und die Moral …
       
       … von der Geschicht’, breche dein Versprechen nicht. Die ursprüngliche
       Version des Textes warnt vor allem vor dem Teufel und ermahnt die Eltern,
       auf ihre Kinder aufzupassen. Die Geschichte entstand zu einer Zeit, in der
       Geistliche das Ende der Welt predigten. Für die Hamelner im 16. Jahrhundert
       bedeutete das: Schon einmal hat der Teufel unsere Kinder geholt, er könnte
       es wieder tun.
       
       Aber die Sage hat noch eine weitere Bedeutung, die Fremdenfeindlichkeit.
       Die Hamelner unterschätzten den Rattenfänger, weil er ein Fremder war. Sie
       glaubten nicht, dass er die Ratten vertreiben würde. Nur aus diesem Grund
       versprachen sie ihm Geld.
       
       ## Der Rattenfänger mit Pfeife
       
       Heute ist der Rattenfänger in Hameln wieder ein Fremder – er wird aber
       bezahlt. Er heißt Michael Boyer und kommt aus Pennsylvania. Kostümiert hat
       er sich schon immer gern. An der High School war er das Schulmaskottchen
       „The Ranger“, ein Fallensteller mit einem Hut aus Waschbärfell.
       
       „Ich war unsportlich, und das war die einzige Möglichkeit, an die
       Cheerleader ranzukommen“, sagt Boyer. Nach der Schule ging er in die
       US-Army und war lange in Deutschland stationiert. Als vor zwanzig Jahren
       die erste Vollzeitstelle für einen Darsteller des Rattenfängers
       ausgeschrieben wurde, bekam Boyer den Job sofort.
       
       Seitdem gibt er jeden Tag mehrere Stadtführungen. Heute ist die Rattensage
       weltweit bekannt. Als Christian Wulff noch Ministerpräsident in
       Niedersachsen war, begleitete Boyer ihn auf Auslandsreisen nach Finnland
       und Amerika. Neben Volkswagen ist Hameln eine Art niedersächsischer
       Exportschlager.
       
       In der Stadt selbst ist Boyer ein Star. Wenn er durch Hameln läuft, wollen
       Jugendliche mit ihm ein Selfie machen. „Ey Alter, Respekt vor deiner
       Arbeit,“ sagen sie dann. Heute ist Boyer nicht mehr der einzige
       Rattenfängerdarsteller der Stadt: Er teilt sich den Job mit seinem
       erwachsenen Sohn.
       
       ## Die Stadt
       
       Hameln liegt rund 50 Kilometer südwestlich von Hannover. Die Stadt hat
       56.000 Einwohner. Wie viele Ratten dort leben, weiß niemand. Doch in den
       Souvenirshops gibt es Tausende – aus Plüsch und Glas und Plastik. Sie
       stehen in den Regalen neben Rattenfänger-Badeenten, Rattengift-Schnaps und
       Ratten aus Salzteig. Am Weserufer steht eine knapp zehn Meter hohe Statue,
       die „tanzende Weserratte“. Jede Woche werden das Musical „Rats“ und das
       Rattenfänger-Freilichttheater aufgeführt. Kaum ein Fachwerkhaus oder ein
       Renaissancebau ohne Inschrift, die auf die Entführung der Kinder verweist.
       
       Die offensive Vermarktung wurde 2014 belohnt: Die Rattenfängersage steht
       seitdem auf der nationalen Liste des Immateriellen Unesco-Weltkulturerbes.
       2.500 Arbeitspätze hängen laut Tourismusamt vom Rattenfänger ab. Die Ratte
       ist damit Hamelns größter Arbeitgeber. Jedes Jahr kommen 4 Millionen
       Touristen in die Stadt, die meisten von ihnen sind deutsche Rentner. Die
       Hamelner leben gut von ihrer Sage. Nur eins bekommt man nicht gezeigt: eine
       echte, lebende Ratte. Dabei gibt es von ihnen mehr als genug.
       
       ## Der Rattenfänger mit Gift
       
       Der wahre Rattenfänger in der Stadt Hameln ist Ralf Schmidt. Er ist
       Geschäftsführer der „Schädlingsbekämpfung Klimasch“. Schmidt arbeitet nicht
       mit einer Flöte, sondern mit Gift und Blutverdünnungsmitteln. Außerdem ist
       Schmidt breiter aufgestellt als der sagenhafte Rattenfänger: Er bekämpft
       auch Mäuse und Marder.
       
       Die Ratten machten allerdings den größten Teil der Arbeit aus, sagt
       Schmidt. Und es werden immer mehr: „Im letzten Jahr hatten wir einen
       deutlich größeren Befall.“ Vor allem in den Gärten gebe es mehr Ratten. Im
       Jahr 2014 hat Schmidts Firma zwischen 2.000 und 2.500 Rattenbefälle
       bekämpft. Was zieht die Ratten nach Hameln? „Wahrscheinlich liegt es an dem
       zunehmenden Maisanbau in der Region“, sagt Schmidt.
       
       Getreide hatte den Ratten bereits vor 700 Jahren geschmeckt, als die Sage
       entstand – und sie fressen es noch heute.
       
       27 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Brenner
       
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